Also verzichtete Cojote darauf, das zu erwähnen. Sie rollten von einem Asyl zum anderen: Mauss Hyde, Gramsci, Overhangs, Christianopolis … An jeder Haltestelle wurde Nirgal begrüßt; und oft kannten ihn die Leute schon im voraus durch seinen Ruf. Nirgal war immer wieder überrascht durch die Mannigfalt und Anzahl der Zufluchtsstätten, die zusammen ihre seltsame Welt bildeten, halb geheim und halb freiliegend. Und in dieser Welt befand sich nur ein kleiner Teil der Zivilisation des Mars. Wie müßten die Städte im Norden an der Oberfläche wohl sein? Das lag jenseits seines Fassungsvermögens, obwohl ihm schien, daß, während sich die Wunder der Reise eines nach dem anderen auftaten, sein Verständnis etwas größer wurde. Man konnte schließlich nicht vor Erstaunen explodieren.
»Gut«, pflegte Cojote zu sagen, während sie fuhren (er hatte das inzwischen Nirgal beigebracht), »vielleicht haben wir einen Vulkanausbruch gestartet, vielleicht auch nicht. Aber es war auf jeden Fall eine neue Idee. Das ist eines der größten Dinge, Junge, an diesem ganzen Marsprojekt: Es ist alles neu.«
Sie wandten sich wieder nach Süden, bis die gespenstische Wand der Polkappe über den Horizont ragte. Bald würden sie wieder daheim sein.
Nirgal dachte an alle Zufluchtsstätten, die sie besucht hatten. »Desmond, glaubst du wirklich, daß wir uns für immer verstecken müssen?«
»Desmond? Desmond? Wer ist dieser Desmond?« Cojote prustete. »O Junge, ich weiß das nicht. Das kann niemand sicher wissen. Die Menschen, die sich hier draußen verstecken, wurden in einer seltsamen Zeit hinausgedrängt, als ihre Lebensgrundlage bedroht war; und ich bin nicht sicher, ob das immer noch der Fall ist in den Städten, die sie im Norden an der Oberfläche bauen. Die Bosse auf der Erde haben vielleicht ihre Lektion gelernt, und die Leute hier oben fühlen sich behaglicher. Oder vielleicht liegt es nur daran, daß der Aufzug noch nicht wieder ersetzt wurde.«
»Es könnte also keine weitere Revolution geben?«
»Das weiß ich nicht.«
»Nicht, ehe nicht ein neuer Weltraumaufzug da ist?«
»Ich weiß es nicht. Aber der Aufzug wird kommen; und sie bauen da draußen einige große neue Spiegel. Man kann sie manchmal bei Nacht leuchten sehen oder direkt bei der Sonne. Es könnte also alles mögliche geschehen, nehme ich an. Aber eine Revolution ist ein seltenes Ereignis. Und viele Revolutionen sind ohnehin reaktionär. Siehst du, Bauern haben ihre Tradition, die Werte und Gebräuche, die ihnen erlauben, zurechtzukommen. Aber sie leben so dicht an der Kante, daß eine schnelle Veränderung sie hinunterstoßen kann. Und in solchen Zeiten geht es nicht um Politik, sondern ums Überleben. Ich habe das selbst erlebt, als ich in deinem Alter war. Nun waren die Menschen, die man hierhergeschickt hat, nicht arm. Sie hatten aber ihre eigene Tradition und waren machtlos wie die Armen. Und als der Einfluß der 2050er Jahre zuschlug, wurde ihre Tradition ausradiert. Also kämpften sie für das, was sie hatten. Und die Wahrheit ist, daß sie verloren. Man kann nicht mehr gegen die vorhandenen Kräfte kämpfen, besonders hier, weil die Waffen zu stark und unsere Asyle zu empfindlich sind. Wir müßten uns sehr gut bewaffnen oder so etwas. Wir verstecken uns; und sie überfluten den Mars mit neuen Volksmassen, mit Leuten, die an wirklich harte Bedingungen auf der Erde gewöhnt waren, so daß die Verhältnisse hier sie nicht so schwer treffen. Sie bekommen die Behandlung und sind zufrieden. Es gibt nicht mehr so viele Leute, die in die Asyle hinauszukommen suchen, wie wir es in den Jahren vor einundsechzig taten. Es gibt einige, aber nicht viele. So lange die Leute ihre Unterhaltungen haben und ihre eigene kleine Tradition, weißt du, rühren die keinen Finger.«
»Aber …«, fing Nirgal an, brach aber ab.
Cojote sah seinen Gesichtsausdruck und lachte. »He, wer weiß? Recht bald werden wir einen neuen Aufzug auf Pavonis Mons haben; und sie werden höchstwahrscheinlich ziemlich bald wieder anfangen, die Dinge völlig zu verdrehen, diese üblen Halunken. Und ihr jungen Leute werdet wohl kaum mögen, daß die Erde hier den großen Reibach macht. Wir werden sehen, wenn die Zeit kommt. Inzwischen haben wir unseren Spaß, nicht wahr? Wir lassen das Feuer nicht erlöschen.«
In dieser Nacht hielt Cojote den Wagen an und ließ Nirgal sich anziehen. Sie gingen hinaus und traten auf den Sand; und Cojote drehte Nirgal um, so daß er nach Norden blickte. »Schau auf den Himmel!«
Nirgal stand da und paßte auf. Er sah, wie ein neuer Stern in Erscheinung trat, da über dem Nordhorizont. Er wuchs in Sekunden zu einem langen Kometen mit weißem Schweif, der von Westen nach Osten flog. Als er etwa halbwegs über den Himmel gekommen war, brach der flammende Kopf des Kometen in Stücke, und helle Fragmente zerstreuten sich nach allen Richtungen und wurden schwarz.
»Einer der Eis-Asteroiden!« rief Nirgal.
Cojote knurrte: »Junge, ich kann dir sagen, das ist keine Überraschung. Nun, ich will dir etwas erzählen, das du nicht gewußt hast. Das war der Eisasteroid 2089 C. Hast du gesehen, wie der am Ende platzte? Das war ein Anfang. Sie taten das mit Absicht. Wenn man sie beim Eintritt in die Atmosphäre explodieren läßt, kann man größere Asteroiden einsetzen, ohne die Oberfläche in Gefahr zu bringen. Und das war meine Idee! Ich sagte ihnen, ich würde das selbst tun. Ich gab dem Computer in Greg’s Place einen anonymen Vorschlag ein, als ich mit ihrem Kommunikationssystem herumspielte; und sie sind darauf angesprungen. Jetzt werden sie es die ganze Zeit so machen. Es wird in jeder Saison einen oder zwei solcher Brocken geben. Dadurch wird die Luft sehr schnell dichter. Schau, wie die Sterne zittern! Auf der Erde haben sie das die ganze Nacht getan. O Junge … Das wird eines Tages auch hier geschehen. Luft, die du atmen kannst wie ein Vogel im Himmel. Vielleicht wird uns das helfen, die Ordnung auf dieser Welt zu ändern. Man kann sich bei so etwas nie sicher sein.«
Nirgal schloß die Augen und sah, wie rote Nachbilder des Eismeteors seine Augenlider trafen. Meteore wie weißes Feuerwerk, die direkt in den Mantel Löcher bohrten, Vulkane … Er drehte sich um und sah Cojote über die Ebene hüpfen. Sein Helm wirkte auf ihm merkwürdig groß, als ob er ein Mutant oder Schamane wäre, der den Kopf eines heiligen Tieres trug und wie ein Wechselbalg über den Sand tanzte. Dies war Cojote, ohne Zweifel sein Vater!
Dann hatten sie die Welt umrundet, wenn auch nur hoch in der Südhemisphäre. Die Polkappe stieg über dem Horizont auf und wuchs, bis sie unter dem Überhang aus Eis waren, der nicht mehr so groß wirkte wie zu Beginn der Reise. Sie fuhren daheim in den Hangar und stiegen aus dem kleinen Felsenwagen aus, den Nirgal in den vorangegangenen zwei Wochen so gut kennengelernt hatte, und gingen steif durch die Schleusen und den langen Tunnel in die Kuppel. Plötzlich waren sie inmitten all der vertrauten Gesichter, wurden gedrückt, getätschelt und ausgefragt. Nirgal schreckte scheu vor der Aufmerksamkeit, die er erregte, zurück, aber Cojote erzählte für ihn alle Geschichten; und er brauchte nur zu lachen und die Verantwortung für das, was sie getan hatten, abzulehnen. Wenn er seine Verwandten anschaute, wurde ihm klar, wie klein diese seine Welt wirklich war. Die Kuppel hatte weniger als fünf Kilometer Durchmesser und erhob sich um zweihundertfünfzig Meter über den Teich. Eine kleine Welt.
Nachdem er wieder daheim war, ging er im frühen Morgenlicht los und fühlte den angenehmen Biß der Luft. Er betrachtete aus der Nähe die Gebäude und Bambusunterkünfte des Dorfes in seinem Nest von Hügeln und Bäumen. Das sah alles so fremd und klein aus. Dann war er draußen auf den Dünen, ging zu Hirokos Platz, während über ihm die Möwen flogen, und machte oft halt, nur um sich alles anzusehen. Er atmete den kühlen Geruch von Tang und Salz des Strandes ein. Die tiefe Vertrautheit des Aromas löste sofort eine Million Erinnerungen aus, und er wußte, daß er wieder daheim war.