Plötzlich fing sie an zu weinen. Maya und Michel setzten sich zu beiden Seiten von ihr hin. Sie hielt die Hände vors Gesicht und stöhnte. Das war für die gewöhnlich so starke Marina so ungewöhnlich, daß die Realität ihrer Mitteilung betroffen machte.
Marina setzte sich auf und wischte sich Augen und Nase. Michel gab ihr ein Taschentuch. Sie fuhr ruhig fort: »Ich fürchte, daß viele von ihnen getötet worden sind. Ich war mit Vlad und Ursula draußen in einer jener entfernten Steinblockklausen. Wir blieben dort drei Tage lang, gingen dann zu einer versteckten Garage und entkamen in Felswagen. Vlad ging nach Burroughs und Ursula nach Elysium. Wir versuchen, so viele der Ersten Hundert zu benachrichtigen, wie wir können. Besonders Sax und Nadia.«
Maya stand auf, zog sich an, ging dann durch den Gang und klopfte bei Spencer an die Tür. Dann ging sie wieder in die Küche und setzte Teewasser auf, wobei sie es vermied, das Bild von Frank anzuschauen, der ihr zusah und sagte: Ich habe es dir gesagt. So pflegt das zu geschehen. Maya kam mit den Teetassen ins Wohnzimmer und sah, wie ihre Hände zitterten, daß ihr die heiße Flüssigkeit über die Finger floß. Michels Gesicht war blaß und verschwitzt, und er hörte überhaupt nichts von dem, was Marina sagte. Natürlich — wenn Hirokos Gruppe dort gewesen war, hatten sie seine ganze Familie erwischt, entweder gefangen oder getötet.
Maya verteilte die Teetassen; und als Spencer hereinkam und man ihm die Geschichte erzählt hatte, nahm Maya ein Kleid und legte es Michel über die Schultern und schämte sich sehr für den jämmerlichen Zeitpunkt ihrer Attacke gegen ihn. Sie setzte sich neben ihn, tätschelte seinen Schenkel und versuchte, ihm durch die Berührung mitzuteilen, daß sie da war, daß sie auch seine Familie war und daß alle ihre Spiele vorbei waren, soweit sie dazu imstande wäre. Ihn nicht mehr wie ein Schoßtier oder einen Sandsack zu behandeln…
Daß sie ihn liebte. Aber sein Schenkel war wie warme Keramik; und er bemerkte offenbar nicht die Berührung ihrer Hand und war sich kaum ihrer Anwesenheit bewußt. Sie kam auf den Gedanken, daß gerade in Momenten größter Not die Menschen am wenigsten füreinander tun konnten.
Sie stand auf und gab Spencer etwas Tee. Dabei vermied sie, das blasse Bild ihres Gesichts im Küchenfenster anzuschauen, das verkniffene harte Geierauge, das sie nie ertragen konnte. Man kann nie zurückschauen.
Im Moment konnte man nichts weiter tun als dazusitzen und die Nacht herumzubringen. Zu versuchen, die Nachricht zu verarbeiten und ihr zu widerstehen. So saßen sie nur da, redeten und hörten zu, wie Marina die Geschichte in immer größerem Detail erzählte. Sie tätigten auf den Verbindungen von Praxis Anrufe, um mehr herauszufinden. Sie waren schlapp und stumm in ihren eigenen Überlegungen, jeder in seinem einsamen Universum gefangen. Die Minuten vergingen wie Stunden und die Stunden wie Jahre. Es war die höllisch verschlungene Raumzeit der gänzlichen Nachtwache, das älteste der menschlichen Rituale, wenn Menschen ohne Erfolg einer blinden Katastrophe Sinn abzugewinnen suchen.
Als endlich die Dämmerung kam, war der Himmel bedeckt und die Kuppel mit Regentropfen besprüht. Einige qualvoll langsame Stunden später begann der Prozeß, mit allen Gruppen in Odessa Verbindung aufzunehmen. Im Laufe dieses und des nächsten Tages verbreitete sich die Nachricht, die von Mangalavid und den anderen Nachrichtendiensten unterdrückt worden war. Aber allen war klar, daß etwas geschehen war wegen des plötzlichen Fehlens von Sabishii bei den gewöhnlichen Gesprächen, sogar in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse. Gerüchte flogen hin und her und gewannen an Schwung mangels verläßlicher Nachrichten. Sie reichten von Sabishiis Unabhängigkeit bis zu seiner Ausradierung. Aber in den angespannten Versammlungen der folgenden Woche berichteten Maya und Spencer jedem, was Marina gesagt hatte; und dann verbrachten sie die anschließenden Stunden mit Beratungen, was man machen könnte. Maya tat ihr Bestes, um die Leute zu überreden, sich nicht zu Aktionen drängen zu lassen, ehe sie bereit wären. Aber das war ein mühsames Unterfangen. Die Leute waren wütend und erschreckt, und es gab in dieser Woche viele Vorfälle in der Stadt und Umgebung von Hellas und auf dem ganzen Mars — Demonstrationen, kleinere Sabotagen, Angriffe auf Stellungen und Personal des Sicherheitsdienstes, Ausfälle großer Computer, Verlangsamungen bei der Arbeit. »Wir müssen ihnen zeigen, daß wir uns so etwas nicht gefallen lassen können!« sagte Jackie im Netz. Sie schien überall gleichzeitig zu sein. Selbst Art stimmte ihr zu: »Ich denke, zivile Proteste durch die allgemeine Bevölkerung, soviel wir nur aufbringen können, könnte sie bremsen. Könnte bewirken, daß diese Schufte es sich zweimal überlegen, ehe sie wieder so etwas tun.«
Nichtsdestoweniger stabilisierte sich die Lage nach einiger Zeit. Sabishii kehrte ins Netz und zu Bahnfahrplänen zurück, und das Leben fing dort wieder an, obwohl es nicht mehr dasselbe war wie zuvor, da eine große Polizeimacht als Besatzung dablieb, welche die Tore und den Bahnhof überwachte und sich bemühte, alle Hohlräume im Labyrinth der Halde aufzufinden. Während dieser Zeit führte Maya eine Reihe langer Gespräche mit Nadia, die in South Fossa arbeitete, und mit Nirgal und Art und sogar mit Ann, die von einem ihrer Verstecke in Aureum Chaos anrief. Sie waren sich alle einig, daß sie sich, ganz gleich, was in Sabishii geschehen wäre, im Moment jedes Versuchs einer allgemeinen Erhebung enthalten müßten. Sogar Sax rief bei Spencer an, um zu sagen, daß er ›Zeit brauchen Was Maya tröstlich fand, da es ihre Überzeugung stützte, daß die Zeit noch nicht gekommen war. Daß man sie provozieren würde in der Hoffnung, vorzeitig eine Revolte zu versuchen. Ann, Kasei, Jackie und die anderen Radikalen — Harmakhis, Antar, sogar Zeyk — waren über das Warten unglücklich und pessimistisch hinsichtlich seines Sinnes. Maya sagte ihnen: »Ihr versteht nicht. Da draußen wächst eine ganze neue Welt heran, und je länger wir warten, desto stärker wird sie. Haltet nur durch!«
Dann bekamen sie etwa einen Monat nach der Schließung von Sabishii auf ihren Armbandgeräten eine kurze Mitteilung von Cojote — einen kurzen Ausschnitt mit seinem schiefen Gesicht, das ungewöhnlich ernst aussah, wonach er durch das Labyrinth geheimer Tunnels in der Moholehalde entkommen wäre und sich jetzt in einem seiner Verstecke befände. »Was ist mit Hiroko?« fragte Michel sofort. »Was ist mit Hiroko und den übrigen?«
Aber Cojote war schon weg.
»Ich glaube nicht, daß sie Hiroko geschnappt haben«, sagte Michel sofort. Er ging im Zimmer herum, ohne zu merken, daß er sich bewegte. »Weder Hiroko noch sonst jemand von ihnen! Wenn man sie gefangen hätte, so hätte die Übergangsbehörde das bestimmt verkündet. Ich wette, daß Hiroko die Gruppe wieder in den Untergrund geführt hat. Sie waren seit Dorsa Brevia nicht mit den Dingen zufrieden, sie sind eben nicht gut bei Kompromissen. Darum sind sie als erste abgehauen. Alles, was seither geschehen ist, hat nur ihre Ansicht bestärkt, daß sie uns nicht zutrauen können, die Welt zu erbauen, die sie anstreben. Also haben sie diese Chance genutzt, wieder zu verschwinden. Vielleicht hat sie der Überfall auf Sabishii gezwungen, dies zu tun, ohne uns zu benachrichtigen.«
»Vielleicht«, sagte Maya und bemühte sich glaubhaft zu klingen. Das klang wie eine Ablehnung seitens Michels. Aber wenn es ihm half — wen kümmerte das? Und Hiroko war zu allem fähig. Maya mußte aber ihre Antwort plausibel und Maya-ähnlich machen, sonst würde er merken, daß sie ihn nur beruhigte. »Aber wohin würden sie gehen?«
»Zurück ins Chaos, möchte ich annehmen. Viele der alten Zufluchtsstätten gibt es noch.«