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Aber seine Heimat hatte sich verändert. Oder er? Zwischen dem Versuch, Simon zu retten, und der Reise mit Cojote war er ein vom Rest abgesonderter Jüngling gewesen. Die ungewöhnlichen Abenteuer, nach denen er sich so gesehnt hatte, waren gekommen, und deren einziges Resultat war, daß er seinen Freunden entfremdet wurde. Jackie und Harmakhis hingen enger als je aneinander und wirkten wie ein Schild zwischen ihm und allen jüngeren Sansei. Nirgal erkannte rasch, daß er es eigentlich gar nicht anders hatte haben wollen. Er wollte nur wieder in die Geschlossenheit seiner kleinen Gruppe eingehen und mit seinen Verwandten eins sein.

Als er sich aber unter sie mischte, verstummten sie, und Harmakhis führte sie weg nach höchst unerfreulichen Begegnungen. So blieb Nirgal nichts anderes übrig, als sich wieder den Erwachsenen zuzuwenden, die ihn nachmittags wie ganz selbstverständlich bei sich aufnahmen. Vielleicht wollten sie ihm etwas von der rauhen Behandlung seiner Meute ersparen. Aber das hatte nur den Effekt, daß er noch mehr abgesondert wurde. Dagegen konnte man nichts machen. Eines Tages, als er mißvergnügt in dem grauen und fahlen Licht eines herbstlichen Nachmittags am Strand ging, erkannte er, daß seine Kindheit vorbei war. Das war sein Empfinden: er war jetzt etwas anderes, weder Erwachsener noch Kind, ein einsames Wesen, ein Fremder im eigenen Lande. Diese melancholische Erkenntnis verursachte ihm ein seltsames Vergnügen.

Eines Tages nach dem Frühstück blieb Jackie mit ihm und Hiroko, die an diesem Tage gekommen war, um zu unterrichten, zurück und bat, an ihrer Nachmittagsstunde teilnehmen zu dürfen. »Warum solltest du ihn unterrichten und nicht mich?«

Hiroko sagte ruhig: »Kein Grund. Bleib, wenn du willst. Hol deinen Leser und ruf auf: Thermische Technik, Seite eins null fünf null. Wir werden als Beispiel die Kuppel von Zygote zum Modell nehmen. Sagt mir, welches der wärmste Punkt unter der Kuppel ist.«

Nirgal und Jackie gingen das Problem an — im Wettstreit und dennoch Seite an Seite. Er war so froh, daß sie da war, daß er sich kaum an das Problem erinnern konnte; und Jackie hob den Finger, ehe er nur seine Gedanken darüber geordnet hatte. Und sie lachte ihn an, etwas spöttisch, aber auch vergnügt. Trotz aller enormen Veränderungen in ihnen beiden behielt Jackie jene Fähigkeit, ansteckend zu lachen, ein Lachen, von dem ausgeschlossen zu sein so schmerzlich war …

Hiroko sagte ihnen: »Hier ist eine Frage für das nächste Mal. Alle Namen für Mars in der Areophanie sind Namen, die ihm von Erdenleuten gegeben wurden. Ungefähr die Hälfte davon bedeuten in den Sprachen, denen sie entstammen, Feuerstern. Aber das ist nur ein äußerlicher Name. Die Frage ist, wie heißt der eigentliche Name des Mars selbst?«

Einige Wochen später kam Cojote wieder vorbei, was Nirgal zugleich glücklich und nervös machte. Cojote unterrichtete die Kinder an einem Morgen, behandelte Nirgal aber zum Glück so wie alle übrigen. »Die Erde ist in einem sehr schlechten Zustand«, sagte er ihnen, als sie an Vakuumpumpen der Tanks für flüssiges Natrium am Rickover arbeiteten, »und es wird nur noch schlimmer werden. Das macht ihre Kontrolle über den Mars für uns nur desto gefährlicher. Wir werden uns verstecken, bis wir uns völlig von ihnen befreien können, und dann sicher abseits stehen, während sie in Wahnsinn und Chaos versinken. Erinnert euch an meine Worte! Dies ist eine ganz sichere Prophezeiung.«

Jackie erklärte: »Das ist nicht das, was John Boone gesagt hat.« Sie verbrachte viele Abendstunden mit der Erforschung von John Boones PC und zog jetzt die Schachtel aus der Hüfttasche. Ohne das geringste Suchen nach einer Stelle sagte die freundliche Stimme aus dem Kasten: »Der Mars wird nie sicher sein, wenn die Erde es nicht auch ist.«

Cojote lachte heiser: »Ja gut, John Boone war so. Aber bedenkt, daß er tot ist, und ich bin noch da.«

»Ein jeder kann sich verstecken«, sagte Jackie scharf. »Aber John Boone ist nach hier herausgekommen und hat geführt. Darum bin ich eine Anhängerin von ihm.«

»Du bist eine Anhängerin und ein Nachkomme von Boone«, rief Cojote und neckte sie. »Und die Boonesche Algebra hat nie gestimmt. Aber schau her, Mädchen, du mußt deinen Großvater noch besser verstehen, als dich bloß eine Anhängerin von ihm zu nennen. Du kannst John Boone nicht zu einer Art Dogma machen und dem treu sein, was er war. Ich sehe, wie hier andere sogenannte Booneleute genau das tun, und es reizt mich zum Lachen, wenn ich davon nicht gerade Schaum vor dem Mund bekomme. Nun, wenn John Boone dich hier kennenlernen und auch nur eine Stunde zu dir sprechen würde, dann würde er danach ein Jackie-ist sein. Und wenn er Harmakhis träfe und zu ihm spräche, würde er ein Harmakhist werden, vielleicht sogar ein Maoist. Genau so war er nun einmal. Und du mußt sehen, daß das gut war; denn was er tat, war, daß er die Verantwortung für das Denken uns wieder auferlegte. Das hat uns gezwungen, einen Beitrag zu leisten, denn sonst könnte Boone nicht handeln. Sein Standpunkt war, daß nicht bloß ein jeder das tun könnte, sondern daß er es auch tun sollte.«

»Einschließlich aller Menschen auf der Erde«, antwortete Jackie.

»Nicht wieder so hastig!« rief Cojote. »O Mädchen, warum verläßt du nicht diese Jungen und heiratest mich auf der Stelle? Ich bekomme einen Kuß wie von dieser Vakuumpumpe, komm her!«, und er schwenkte die Pumpe auf sie zu, und Jackie stieß sie beiseite, schob ihn weg und rannte fort, nur des Spaßes halber. Sie war jetzt die schnellste Läuferin in Zygote von allen. Selbst Nirgal mit all seiner Ausdauer konnte nicht so sprinten wie sie. Und die Kinder lachten über Cojote, als er hinter ihr her hopste. Er war für einen Alten recht schnell, und er raste kreuz und quer hinter ihnen allen her, bis er schrie: »O mein Bein! Das werde ich euch heimzahlen. Ihr Jungen seid bloß eifersüchtig auf mich, weil ich euch euer Mädchen stehlen werde. Halt!«

Diese Art von Hänselei war Nirgal peinlich, und Hiroko mochte sie auch nicht. Sie sagte Cojote, er möge aufhören, aber der lachte sie nur aus. Er sagte: »Du bist diejenige, welche losgezogen ist und sich ein kleines Inzestlager geschaffen hat. Was willst du tun, sie kastrieren?« Er lachte über Hirokos finstere Miene. »Du wirst sie ziemlich bald fortgeben müssen, das ist es. Und ich könnte recht gut auch einige von ihnen gebrauchen.«

Hiroko schickte ihn weg; und bald danach war er wieder unterwegs. Und das nächste Mal, als Hiroko unterrichtete, ging sie mit allen Kindern ins Bad, und sie setzten sich auf die feuchten Kacheln am seichten Ende und ließen sich von dem dampfenden Wasser durchtränken, während Hiroko sprach. Nirgal saß dicht bei Jackies langbeinigem nackten Körper, den er so gut kannte, einschließlich all seiner dramatischen Veränderungen im letzten Jahr. Und er fand, daß er nicht imstande war, sie anzuschauen.

Seine alte nackte Mutter sagte: »Ihr wißt, wie Genetik funktioniert. Ich habe euch das selbst gelehrt. Und ihr wißt, daß viele von euch Halbbrüder und -schwestern sind, Onkel, Nichten und Vettern und so weiter. Ich bin für viele von euch Mutter oder Großmutter. Darum solltet ihr euch nicht paaren und zusammen Kinder haben. So einfach ist das, ein einfaches genetisches Gesetz.« Sie hielt die Hand hoch, wie wenn sie sagen wollte: Dies ist unser gemeinsamer Körper.

»Aber alle lebenden Wesen sind voller Viriditas«, fuhr sie fort, »der grünen Kraft, die nach außen hin gestaltet. Und so ist es normal, daß ihr einander lieben werdet, besonders jetzt, da eure Körper aufblühen. Daran ist nichts Schlechtes, ganz gleich, was Cojote sagt. Er macht auf jeden Fall nur Witze. Aber in einem hat er recht: Ihr werdet bald viele andere Menschen eures Alters kennenlernen, und die werden schließlich Freunde und Partner und mit euch gemeinsam Eltern werden, euch näherstehend als selbst eure Stammesverwandten, die ihr zu gut kennt, um sie je wie jemand anderen zu lieben. Wir sind hier alle Stücke von euch selbst. Und wahre Liebe gilt immer einem anderen.«