Die Anfälle von deja vu kamen stärker denn je wieder. Sie hatte schon früher in einer solchen Zeit in Burroughs gelebt. Vielleicht war das alles. Aber das Gefühl war so verwirrend, wenn es auftrat, diese tiefe, unerschütterliche Überzeugung, daß alles vorher schon genau passiert wäre, so unausweichlich, als ob es eine ewige Wiederkehr gäbe … So wachte sie dann auf und ging ins Bad; und ganz gewiß war all dies schon früher geschehen, einschließlich der ganzen Steifheit und kleinen Schmerzen. Dann ging sie hinaus, traf Nirgal und einige seiner Freunde und erkannte, daß es ein echter Anfall war und nicht bloß eine Koinzidenz. Alles war schon einmal so passiert. Alles war wie ein Uhrwerk. Schicksalsschläge. Nun gut, sie würde nachdenken und es ignorieren. Das ist also Realität. Wir sind Kreaturen des Schicksals. Mindestens weiß man nicht, was als Nächstes geschehen wird.
Sie redete endlos mit Nirgal, darum bemüht, ihn zu verstehen und selbst von ihm verstanden zu werden. Sie lernte von ihm, ahmte ihn jetzt bei Versammlungen nach — sein strahlendes, freundliches und ruhiges Vertrauen, das die Menschen so zu ihm hinzog. Sie waren beide berühmt, man sprach über sie beide in den Nachrichten, sie beide waren bei der UNTA auf der Liste der meistgesuchten Personen. Sie durften sich beide nicht auf der Straße sehen lassen. Also hatten sie eine Bindung; und sie lernte von ihm alles, was sie konnte, und glaubte, daß er auch von ihr lernen würde. Jedenfalls hatte sie Einfluß. Es war eine gute Beziehung, ihre beste Verbindung zu den Jungen. Er machte sie glücklich und gab ihr Hoffnung.
Daß das alles aber im erbarmungslosen Griff eines übermächtigen Schicksals geschehen mußte! Das Wiederzusehen-Glauben, das Schon-einmal-Gewesen war laut Michel nur eine chemische Erscheinung des Gehirns, eine neurale Verzögerung oder Wiederholung, eine neurale Schleife, die den Eindruck vermittelte, daß die Gegenwart auch eine Art von Vergangenheit wäre. Vielleicht war es das. Also akzeptierte sie diese Diagnose und nahm ohne Klage und ohne Hoffnung alles ein, was er ihr verschrieb. Jeden Morgen und jeden Abend öffnete sie die Tasche in dem Behälterstreifen, den er jede Woche für sie herrichtete, und nahm alle Art von Pillen, die darin waren, ohne Fragen zu stellen. Sie schlug nicht mehr auf ihn ein. Sie fühlte sich nicht mehr dazu gedrängt. Vielleicht hatte er endlich den richtigen medizinischen Cocktail für sie gemixt. Das hoffte sie. Sie ging mit Nirgal aus zu Versammlungen und kam erschöpft wieder nachHause in das Apartment unter dem Tanzstudio. Aber oft fand sie dann keinen Schlaf. Ihre Gesundheit verschlechterte sich. Sie war oft krank. Verdaungsbeschwerden, Ischias, Brustschmerzen… Ursula empfahl ihr eine Wiederholung der gerontologischen Behandlung. Das hilft immer, sagte sie. Und mit den neuesten genomischen Scan-Verfahren schneller denn je. Aber Maya glaubte, daß sie keine Woche auslassen dürfe. Später, sagte sie Ursula. Wenn dies alles vorbei ist.
In manchen Nächten, wenn sie nicht schlafen konnte, las sie etwas über Frank. Sie hatte das Foto aus der Wohnung in Odessa mitgebracht, und es hing jetzt an der Wand neben ihrem Bett in dem sicheren Haus in Hunt Mesa. Sie empfand immer noch den Druck dieses elektrisierenden Blickes; und so las sie manchmal in den schlaflosen Stunden etwas über ihn und versuchte, mehr über seine diplomatischen Bemühungen zu erfahren. Sie hoffte, Dinge zu finden, in denen er gut gewesen war, um sie nachzuahmen, und auch das herauszubringen, was ihrer Meinung nach falsch gewesen war.
Nach einem anstrengenden Besuch in Sabishii und der noch in seinem Haldenlabyrinth versteckten Kommune fiel sie eines Nachts in ihrem Apartment über ihrem Lektionar in Schlaf, das ein Buch über Frank gezeigt hatte. Dann wurde sie durch einen Traum über Frank aufgeweckt. Ruhelos ging sie hinaus ins Wohnzimmer des Apartments, holte sich einen Becher Wasser und fuhr fort, in dem Buch zu lesen.
Es handelte besonders von den Jahren zwischen der Vertragskonferenz von 2057 und dem Ausbruch der Unruhen im Jahr 2061. Das waren die Jahre, in denen Maya ihm am nächsten gewesen war; aber sie erinnerte sich nur lückenhaft daran, wie in Lichtblitzen — Momente elektrischer Intensität, getrennt durch lange Perioden äußerster Finsternis. Und die Darstellung in diesem Buch zündete in ihr überhaupt keine Gefühle des Wiedererkennens, obwohl sie ziemlich oft im Text erwähnt wurde. Eine Art von historischem jamais vu.
Cojote schlief auf der Couch und stöhnte in einem Traum auf. Dann erwachte er und sah sich um, um die Lichtquelle zu finden. Er tappte auf dem Weg zum Bad hinter ihr her und blickte ihr über die Schulter. »Ah«, sagte er bedeutungsvoll. »Man sagt viel über ihn.« Und er ging den Korridor hinunter.
Als er zurückkam, sagte Maya: »Ich nehme an, du weißt es besser.«
»Ich weiß über Frank manches, das viele nicht wissen. Soviel ist sicher.«
Maya starrte ihn an. »Sag mir nichts! Auch du bist in Nicosia gewesen.« Dann fiel ihr ein, daß sie das irgendwo gelesen hatte.
»Das war ich, jetzt, da du es erwähnst.«
Er setzte sich schwer auf die Couch und starrte auf den Fußboden. »Ich habe Frank in jener Nacht gesehen, wie er Ziegelsteine durch Fenster warf. Er hat den Krawall eigenhändig gestartet.«
Er schaute hoch und begegnete ihrem Blick. »Er sprach mit Selim el-Hayil im Apexpark etwa eine halbe Stunde, ehe John angegriffen wurde. Nun kannst du dir selbst ein Bild machen.«
Maya biß die Zähne zusammen und sah auf das Lektionar, ohne ihn zu beachten.
Er streckte sich auf der Couch aus und fing an zu schnarchen.
Das war wirklich ein alter Hut. Und wie Zeyk klargemacht hatte, würde niemand je diesen Knoten entwirren, ganz gleich, was sie gesehen hatten oder nach ihrer Erinnerung gesehen zu haben glaubten. Niemand konnte so weit in der Vergangenheit einer Sache sicher sein, nicht einmal der eigenen Erinnerungen, die sich bei jeder Wiederholung leicht veränderten. Die einzigen Erinnerungen, denen man vertrauen konnte, waren jene ungebetenen Ausbrüche aus der Tiefe, die memoires involuntaires, die so lebhaft waren, daß sie wahr sein mußten. Sie betrafen aber oft unwichtige Ereignisse.
Nein. Cojote war auch nur ein weiterer unzuverlässiger Zeuge wie alle anderen.
Als die Worte des Textes wieder erschienen, las sie weiter.
Chalmers’ Bemühungen, den Ausbruch der Gewalt zu stoppen, waren nicht erfolgreich, weil er den vollen Umfang des Problems einfach nicht kannte. Wie die meisten der restlichen Ersten Hundert konnte er sich nie den vollen Umfang der Marsbevölkerung in den 2050er Jahren vorstellen, die damals bereits über einer Million lag. Und während er dachte, der Widerstand würde von Arkady Bogdanov geführt, weil er ihn kannte, bemerkte er nicht den Einfluß von Oskar Schnelling in Korolyov oder die weitverbreiteten roten Bewegungen wie Freies Elysium oder die namenlosen Verschwundenen, die zu Hunderten die etablierten Siedlungen verließen. Infolge von Unwissenheit und mangelnder Vorstellungskraft wandte er sich nur einem kleinen Bruchteil des Problems zu.
Maya hielt inne, reckte sich und schaute zu Cojote hinüber. Was war nun wirklich wahr? Sie versuchte, sich in jene Jahre zurückzuversetzen und zu erinnern. Frank hatte es nicht gemerkt, oder doch? Mit Nadeln spielen, wenn die Wurzeln krank sind. Hatte Frank ihr das gesagt, irgendwann zu jener Zeit?
Sie konnte sich nicht entsinnen. Mit Nadeln spielen, wenn die Wurzeln krank sind. Diese Äußerung stand im Raum, getrennt von allem anderen, von jedem Kontext, der ihr Sinn verleihen könnte. Aber sie hatte den sehr starken Eindruck, daß Frank gewußt hatte, was es da draußen für einen riesigen unsichtbaren Kreis von Unzufriedenheit und Widerstand gab. Niemand hatte das tatsächlich besser gewußt! Wie konnte das diesem Autor entgangen sein? Überhaupt, wie konnte ein Historiker, der in einem Sessel saß und die Aufzeichnungen sichtete, jemals das wissen, was sie gewußt hatten, jemals erfassen, was sie damals gefühlt hatten, die brüchige kaleidoskopische Natur der täglichen Krise? Jeden Moment des Sturms, den sie gekämpft hatten …