Nach einer Weile sagte der Geologe: »Das da ist der Ronne-Eisschelf selbst und die Weddell-See. Ja, auch da gleitet etwas hinein. Da oben, wo McMurdo zu sein pflegte, auf der anderen Seite des Ross-Eises. Eis wurde über die Bucht gedrückt und hat die Siedlung überrannt.«
Der Pilot begann eine zweite Runde um den Kontinent.
»Welchen Effekt wird das haben?’«fragte Fort.
»Nun, theoretische Modelle sprechen von einer Erhebung des Meeresniveaus um etwa sechs Meter.«
»SechsMeter1.«
»Nun, es wird einige Jahre dauern bis zum vollen Anstieg; aber es hat entschieden angefangen. Der Ausbruch dieser Katastrophe wird den Meeresspiegel binnen Wochen um etwa zwei oder drei Meter heben. Was von der Eisdecke übrigbleibt, wird binnen Monaten, höchstens weniger Jahre, aufschwimmen; und das wird zusätzliche drei Meter ausmachen.«
»Wie könnte das den ganzen Ozean so sehr anheben?«
»Es ist eine Menge Eis.«
»So viel Eis kann es nicht sein!«
»O doch. Das ist der größte Teil des Süßwassers in der Welt, da unter uns. Seien Sie bloß dankbar, daß die ostantarktische Eisdecke gut und stabil ist. Wenn sie abgleiten würde, erhöben sich die Meeresspiegel um sechzig Meter.«
»Sechzig Meter sind eine ganze Masse«, sagte Fort.
Sie beendeten eine neue Runde. Der Pilot sagte: »Wir sollten umkehren.«
»Das reicht fiir jeden Strand in der Welt«, sagte Fort. »Ich meine, wir sollten wieder an unsere Arbeit gehen.«
Als die zweite Revolution auf dem Mars begann, war Nadia im oberen Canyon von Shalbatana Vallis. Man könnte in gewissem Sinne sagen, daß sie sie ausgelöst hat.
Sie hatte South Fossa zeitweilig verlassen, um die Klause von Shalbatana zu inspizieren, die denen über Nirgal Vallis und in den Tälern von Ost-Hellas ähnlich war. Ein langes Kuppeldach über einer gemäßigten Ökologie mit einem Fluß, der den Boden des Canyons herunterströmte, in diesem Fall durch Pumpen aus dem Reservoir von Lewis, 170 Kilometer weit im Süden. Shalbatana bildete eine lange Reihe leichter S-Windungen, so daß der Talboden sehr malerisch wirkte. Aber der Bau der Kuppel war schwierig gewesen.
Nichtsdestoweniger hatte Nadia das Projekt nur mit einem kleinen Teil ihrer Aufmerksamkeit geleitet. Der Rest blieb auf die sprunghaften Entwicklungen auf der Erde konzentriert. Sie war in täglicher Verbindung mit ihrer Gruppe in South Fossa und mit Art und Nirgal in Burroughs; und die hielten sie über alle jüngsten Nachrichten auf dem laufenden. Besonders interessierte sie sich für die Aktivitäten des Weltgerichtshofs, der versuchte, sich als Schiedsrichter in dem wachsenden Konflikt der Metanationalen von Subarashii und der Elfergruppe mit Praxis, der Schweiz und der sich anbahnenden Allianz von China und Indien zu etablieren. Er wollte, wie Art es ausdrückte, ›als eine Art von Weltgericht fungieren. Diese Bemühung war aussichtslos erschienen, als die Krawalle der Fundamentalisten begannen und die Metanationalen sich auf die Selbstverteidigung vorbereiteten. Und Nadia hatte unglücklicherweise gefolgert, daß die Dinge auf der Erde sich wieder auf einer Spirale nach unten ins Chaos bewegen würden.
Aber alle diese Krisen schrumpften zu Bedeutungslosigkeit, als Sax sie anrief, um ihr von dem Zusammenbruch der westantarktischen Eisdecke zu berichten. Sie nahm diesen Anruf an ihrem Pult in einem Bau-Anhänger entgegen und starrte auf das kleine Gesicht im Schirm. »Was meinst du mit zusammengebrochen?«
»Sie hat sich vom Urgestein abgehoben. Ein Vulkan bricht aus. Sie rutschte ins Meer und wird durch Meeresströmungen zerbrochen.«
Das Videobild, das er sendete, war ein Schnitt, der in Punta Arena aufgenommen war, einer chilenischen Hafenstadt, deren Docks verschwunden und Straßen überflutet waren. Dann kam ein Schnitt auf Port Elizabeth im südafrikanischen Azania, wo die Situation ziemlich dieselbe war.
»Wie schnell ist das?« fragte Nadia. »Ist es eine Gezeitenwelle?«
»Nein. Mehr wie eine sehr starke Springflut. Aber die wird nie mehr verschwinden.«
»Also ist genügend Zeit zum Evakuieren, aber nicht genug, um etwas zu bauen«, sagte Nadia. »Und du sprichst von sechs Metern?«
»Aber nur für die nächsten paar… Niemand weiß genau, wie lange. Ich habe Schätzungen gesehen, wonach nicht weniger als ein Viertel der Erdbevölkerung betroffen sein wird.«
»Das glaube ich. O Sax …«
Eine weltweite panische Flucht auf höher liegendes Terrain. Nadia starrte auf den Schirm und fühlte sich wie gelähmt, als sie sich über das Ausmaß der Katastrophe klarer wurde. Die Küstenstädte würden unter Wasser stehen. Sechs Meter! Sie fand es schwer, sich vorzustellen, daß irgendeine mögliche Eismasse imstande sein könne, den Meeresspiegel nur um einen Meter anzuheben — aber sechs! Das war, wenn es dessen noch bedurft hätte, ein erschütternder Beweis dafür, daß die Erde doch gar nicht so groß war. Oder aber, daß die westantarktische Eisdecke riesig war. Nun, sie hatte ein Drittel des Kontinents bedeckt und war, wie die Berichte angaben, mehr als drei Kilometer dick. Das war eine Menge Eis. Sax sagte etwas über die ostantarktische Eisdecke, die anscheinend nicht bedroht war.
Maya schüttelte den Kopf, um sich von diesem Geschwätz freizumachen, und konzentrierte sich auf die Nachrichten.
Bangladesh würde man ganz evakuieren müssen, das waren dreihundert Millionen Menschen. Ferner die Küstenstädte Indiens wie Kalkutta, Madras und Bombay. Dann London, Kopenhagen, Istanbul, Amsterdam, New York, Los Angeles, New Orleans, Miami, Rio, Buenos Aires, Sydney, Melbourne, Singapore, Hong-Kong, Manila, Djakarta, Tokio … Und das waren nur die großen Städte. An der Küste lebte eine Menge Leute, in einer Welt, die schon durch Überbevölkerung und abnehmende Ressourcen ernsthaft in Not war. Und jetzt wurden alle elementaren Bedürfnisse durch Salzwasser ertränkt.
»Sax, wir sollten ihnen helfen«, sagte sie. »Nicht bloß… «
»Es gibt nicht viel, das wir tun können. Und das können wir am besten tun, wenn wir frei sind. Erst das eine, dann das andere.«
»Versprichst du das?«
»Ja«, sagte er und sah überrascht aus. »Ich meine, ich werde tun, was ich kann.«
»Darum bitte ich ja.« Sie dachte darüber nach. »Hast du auf deiner Seite alles bereit?«
»Ja. Wir wollen mit Fernlenkgeschossen gegen alle Überwachungs- und Waffensatelliten anfangen.«
»Was ist mit Kasei Vallis?«
»Damit beschäftige ich mich gerade.«
»Wann willst du losschlagen?« »Wie wäre es mit morgen?«
»Morgen?«
»Ich muß mich sehr bald um Kasei kümmern. Die Bedingungen sind gerade jetzt günstig.«
»Was hast du vor?«
»Laß uns versuchen, morgen anzufangen. Es hat keinen Sinn, Zeit zu vergeuden.«
»Mein Gott!« sagte Nadia und dachte scharf nach. »Wir sind gerade dabei, hinter die Sonne zu gehen?«
»Ja.«
Diese Position vis-a-vis zur Erde hatte in diesen Tagen mehr symbolischen Charakter, da die Nachrichtenverbindungen durch viele Asteroidenrelais gesichert waren. Aber sie bedeutete doch, daß selbst die schnellsten Shuttles Monate brauchen würden, um von der Erde zum Mars zu gelangen.
Nadia holte tief Luft und sagte: »Also los!«