Выбрать главу

Als Nadias Zug einfuhr, war gerade ein lauter Streit im Gange zwischen einem Mann mit Lautsprecher, der von etwa zwanzig Leibwächtern umgeben war, und der aufmüpfigen Menge ihnen gegenüber. Nadia stieg aus, sobald der Zug hielt, und ging hinüber zu der Gruppe, die den Bahnhofsvorsteher und seine Truppen umzingelt hatte. Sie requirierte einen Lautsprecher von einer erstaunt aussehenden jungen Frau und brüllte damit los. »Bahnhofsvorsteher! Bahnhofsvorsteher! Bahnhofsvorsteher!« Sie wiederholte das auf englisch und russisch; und alle waren still geworden, um herauszufinden, wer sie war. Ihr Team von Bauleuten hatte sich durch die Menge vorgearbeitet; und als sie sah, daß sie in Stellung waren, ging sie direkt auf den Haufen von Männern und Frauen in ihren Flakjacken zu. Der Bahnhofsvorsteher erwies sich als ein Oldtimer des Mars. Sein Gesicht war verwittert und trug eine Narbe auf der Stirn. Seine junge Mannschaft trug die Abzeichen der Übergangsbehörde und sah verängstigt aus. Nadia ließ den Lautsprecher zur Seite gleiten und sagte: »Ich bin Nadia Cherneshevsky. Ich habe diese Stadt erbaut. Und wir übernehmen die Kontrolle über sie. Für wen arbeitest du?«

»Für die Übergangsbehörde der Vereinten Nationen«, sagte der Bahnhofsvorsteher entschlossen und starrte sie an, als wäre sie dem Grabe entstiegen.

»Aber welche Einheit? Welche Metanationale?«

»Wir sind eine Mahjari-Einheit«

»Mahjari arbeitet jetzt mit China zusammen und China mit Praxis und Praxis mit uns. Wir stehen auf derselben Seite; und du weißt es noch nicht. Und ganz gleich, was du davon hältst, wir sind hier in der Übermacht.« Sie rief der Menge zu: »Jeder Bewaffnete möge die Hand erheben!«

Alle in der Menge hoben die Hand; und ihre ganze Crew hielt Betäubungsgewehre oder Nagelpistolen oder Flammenwerfer hoch.

»Wir wollen kein Blutvergießen«, sagte Nadia zu dem immer dichter werdenden Haufen von Leibwächtern vor sich. »Wir wollen euch nicht einmal gefangennehmen. Da steht unser Zug. Ihr könnt ihn nehmen, nach Sheffield fahren und euch mit dem Rest eures Teams zusammentun. Dort werdet ihr den neuen Stand der Dinge erfahren. Sonst werden wir den Bahnhof hier verlassen und in die Luft jagen. Wir übernehmen so oder so die Macht; und es wäre töricht, wenn irgend jemand getötet würde, weil die Revolte schon gewonnen ist. Nehmt also den Zug! Ich würde raten, nach Sheffield zu gehen, wo ihr, wenn ihr wollt, eine Fahrt mit dem Aufzug nach draußen bekommen könnt. Wenn ihr aber für einen freien Mars arbeiten wollt, dann könnt ihr euch gleich jetzt und hier mit uns vereinigen.«

Sie sah den Mann ruhig an und fühlte sich erleichterter, als sie den ganzen Tag gewesen war. Der Mann senkte den Kopf, um sich mit seiner Mannschaft zu beraten. Sie redeten fast fünf Minuten flüsternd miteinander.

Dann sah der Mann sie wieder an. »Wir werden euren Zug nehmen.«

Und so wurde Underhill die erste befreite Stadt.

In dieser Nacht ging Nadia hinaus zum Anhängerparkplatz, der sich nahe bei der Mauerkappe des neuen Zeltes befand. Die beiden Habitats, die nicht in Labors umgewandelt worden waren, waren noch mit der Ausstattung der alten Wohnungen versehen. Nachdem Nadia sie besichtigt hatte, ging sie wieder hinaus und durch die Tonnengewölbe und das Alchemistenquartier. Dann kehrte sie zu dem zurück, in dem sie gewohnt hatte, und legte sich mit dem Gefühl von Erschöpfung auf eine der Matratzen auf dem Boden.

Es war wirklich seltsam, zwischen all den Geistern zu liegen und zu versuchen, die Anwesenheit jener vergangenen Zeit wieder in sich zu fühlen. Zu seltsam. Trotz ihrer Erschöpfung konnte sie nicht schlafen. Gegen Morgen hatte sie eine undeutliche Vision, daß sie sich um das Auspacken der Güter von Frachtraketen kümmerte, robotische Fliesenleger programmierte und einen Anruf Arkadys von Phobos entgegennahm. Sie schlief in diesem Zustand sogar einige Zeit und döste ungemütlich dahin, bis ein Kribbeln in ihrem Phantomfinger sie aufweckte.

Und als sie dann knurrend aufstand, war es genauso schwer, sich vorzustellen, daß sie in einer Welt voller Aufruhr erwachte, in der Millionen Menschen darauf warteten, was der Tag bringen würde. Während sie sich in der Enge ihres ersten Heims auf dem Mars umschaute, schien es ihr plötzlich, als ob sich die Wände in einem sehr leichten Rhythmus bewegten, einer Art doppelter Vision, als ob sie in dem schwachen Frühlicht durch einen temporalen Stereogucker blickte, der alle vier Dimensionen zugleich mit einem pulsierenden halluzinatorischen Licht offenbarte.

Sie frühstückten in den Tonnengewölben, in der großen Halle, wo Sax sich einst für die Vorteile einer Terraformung des Mars eingesetzt hatte. Sax hatte diese Diskussion gewonnen; aber Ann kämpfte immer noch darum, als ob nicht alles längst entschieden worden wäre.

Nadia konzentrierte sich auf die Gegenwart, auf ihren Computerschirm und die Flut von Nachrichten, die an diesem Samstag morgen eingingen. Der obere Teil des Bildes galt Mayas sicherem Haus in Burroughs und der untere Teil Praxismeldungen von der Erde. Maya verhielt sich heroisch wie gewöhnlich. Sie zitterte vor Erwartung und kommandierte alle herum, damit sie ihrer Ansicht entsprachen, wie alles geschehen solle, hager und doch in innerer Erregung rotierend. Während Nadia zuhörte, wie sie die letzten Entwicklungen schilderte, verzehrte sie methodisch ihr Frühstück und nahm das vorzügliche Brot von Underhill kaum wahr. In Burroughs war schon Nachmittag, und der Tag war geschäftig gewesen. Jede Stadt auf dem Mars war in Aufruhr. Auf der Erde waren inzwischen alle Küstengebiete überschwemmt, und die Massenverschiebungen bewirkten im Landesinnern ein Chaos. Die neue UN hatte die Aufständischen auf dem Mars als herzlose Opportunisten verurteilt, die ein Leid, wie es noch nie vorgekommen war, ausnützten, um ihre eigene selbstsüchtige Sache zu fördern. »Nur allzu wahr«, sagte Nadia zu Sax, als er zur Tür hereinkam, frisch vom Da Vinci-Krater. »Ich wette, daß sie uns das später vorhalten werden.«

»Nicht, wenn wir ihnen aus ihrer Scheiße heraushelfen.«

»Hmm.« Sie bot ihm Brot an und betrachtete ihn genau. Trotz seiner veränderten Gesichtszüge sah er jeden Tag Sax immer ähnlicher, wie er ungerührt dastand und blinzelte, während er sich in der alten Backsteinkammer umschaute. Es schien, als ob Revolution das Letzte wäre, das er im Kopf hatte. Sie sagte: »Bist du bereit, nach Elysium zu fliegen?«

»Das wollte ich dich gerade fragen.«

»Gut. Laß mich mein Gepäck holen.«

Während sie ihre Kleider und den Computer in ihren alten Rucksack warf, piepte ihr Armband. Es war Kasei. Sein langes graues Haar flatterte wild um sein tief runzliges Gesicht, das eine ganz seltsame Mischung von John und Hiroko darstellte. Johns Mund, im Moment zu einem breiten Grinsen verzogen, und Hirokos orientalische Augen, die jetzt vor Vergnügen geschlitzt waren. Nadia sagte: »Hallo, Kasei, ich glaube nicht, dich auf meinem Armband schon früher einmal gesehen zu haben.«

»Besondere Umstände«, erklärte er unerschüttert. Sie war gewohnt, ihn sich als einen mürrischen Mann vorzustellen; aber der Ausbruch der Revolution hatte offenbar sehr kräftigend auf ihn gewirkt. Sie erkannte plötzlich an seiner Miene, daß er sein ganzes Leben lang darauf gewartet hatte. »Schau, Cojote und ich und eine Schar von Roten sind hier oben in Chasma Borealis; und wir haben den Reaktor und den Damm gesichert. Alle, die hier arbeiten, sind kooperativ gewesen.«

»Ermutigend!« schrie jemand neben ihm.

»Ja, es hat hier viel Unterstützung gegeben, mit Ausnahme eines Sicherheitsteams von etwa hundert Personen, das im Reaktor eingesperrt ist. Die Idioten drohen, ihn zu schmelzen, wenn wir ihnen nicht freies Geleit nach Burroughs geben.«

»So?« fragte Nadia.