Endlich antwortete Ann auf Nadias Ruf. Sie sah aus wie eine rächende Furie, schlicht und einfach verrückt. »Schau«, sagte Nadia zu ihr ohne Vorrede, »ein unabhängiger Mars ist die beste Chance, die du jemals haben wirst, um das zu bekommen, was du willst. Du versuchst die Revolution als Geisel für deine Interessen zu nehmen. Die Leute werden sich aber erinnern. Ich warne dich! Du kannst dich für alles einsetzen, was du willst, wenn wir die Lage unter Kontrolle haben; aber es ist einfach Erpressung, was du da tust. Es ist ein Dolchstoß in den Rücken. Du bringst besser die Roten in Sabishii dazu, die Stadt ihren Bewohnern zurückzugeben.«
»Wie kommst du auf den Gedanken, daß ich ihnen sagen könnte, was sie tun sollen?« erwiderte Ann säuerlich.
»Wer anders, wenn nicht du?«
»Wie kommst du darauf, daß ich mit dem, was sie tun, nicht einverstanden wäre?«
»Ich habe den Eindruck, daß du eine vernünftige Person bist. Deshalb!«
»Ich erhebe nicht den Anspruch, andere Leute herumzukommandieren.«
»Diskutiere mit ihnen, wenn du ihnen keine Befehle erteilen kannst! Sag ihnen, daß schon größere Revolten als die unsrige mißlungen sind wegen solcher Stupidität. Sag ihnen, sie sollen Verständnis zeigen!«
Ann trennte die Verbindung, ohne zu antworten.
»Mist!« sagte Nadia.
Ihre KI spie weiter Nachrichten aus. Die Expeditionsstreitmacht der UNTA kam aus den Gebirgen im Süden zurück und schien nach Hellas oder Sabishii unterwegs zu sein. Sheffield war noch unter der Kontrolle von Subarashii. In Burroughs war die Lage offen. Sicherheitskräfte schienen die Kontrolle zu haben; aber aus Syrtis und von überall her strömten Flüchtlinge in die Stadt, und es war auch ein Generalstreik im Gange. Die Videos ließen darauf schließen, daß der größte Teil der Bevölkerung den Tag draußen auf den Boulevards und in den Parks verbringen würde mit Demonstrationen gegen die Übergangsbehörde oder auch nur, um zu sehen, was vor sich ging.
»Wir müssen wegen Burroughs etwas unternehmen«, sagte Sax.
»Ich weiß.«
Sie flogen wieder nach Süden, vorbei am Buckel von Hecates Tholus am Nordende des Elysium-Massivs zum Raumflughafen von South Fossa. Ihr Flug hatte zwölf Stunden gedauert, aber sie waren durch neun Zeitzonen nach Westen gereist und hatten die Datumsgrenze bei 180° Länge überschritten, so daß es Sonntag mittag war, als ihr Flughafen-Bus sie zum Rande von South Fossa und durch die Schleuse in die Kuppel brachte.
South Fossa und die anderen Städte von Elysium, Hephaestus und Elysium Fossa, hatten sich alle großartig für einen freien Mars entschieden. Sie bildeten eine gewisse geographische Einheit. Ein südlicher Arm des Eises von Vastitas verlief jetzt zwischen dem Elysium-Massiv und der Großen Böschung; und obwohl er bereits durch Pontonbrücken überspannt war, stand Elysium im Begriff, ein Inselkontinent zu werden. In allen drei großen Städten waren Massen auf die Straßen geströmt und hatten die Büros und physikalischen Versorgungsanlagen der Stadt besetzt. Ohne die Drohung mit Angriffen aus dem Orbit zu ihrer Unterstützung hatten die geringen Polizeikräfte der Übergangsbehörde in den Städten entweder Zivil angezogen und waren in der Menge verschwunden oder in den Zug nach Burroughs gestiegen. Elysium war unzweifelhaft ein Teil des freien Mars.
Unten in den Büros von Mangalavid stellten Nadia und Sax fest, daß eine große bewaffnete Schar von Rebellen den Bahnhof erobert hatte und jetzt damit beschäftigt war, vierundzwanzig und eine halbe Stunde täglich auf allen vier Kanälen Videoberichte zu senden, die alle mit der Revolte sympathisierten, mit langen Interviews von Menschen in allen unabhängigen Städten und Stellungen. Der Zeitrutsch war einer Zusammenfassung der Ereignisse des Vortages gewidmet.
Einige abseits gelegene Bergbaustationen in den radialen Schluchten von Elysium und den Phlegra-Bergen waren reine Unternehmungen der Metanationalen, zumeist von Amexx und Subarashii. Diese waren weitgehend mit neuen Emigranten besetzt, die in ihren Camps eingeschlossen waren und entweder still geworden waren oder jeden, der versuchte, sie zu belästigen, bedrohten. Einige hatten sogar ihre Absicht erklärt, den Planeten wieder zu erobern oder durchzuhalten, bis Verstärkungen von der Erde einträfen. Nadia gab den Rat, sie zu ignorieren. »Geht ihnen aus dem Weg und ignoriert sie! Blockiert ihr Kommunikationssystem, wenn ihr könnt, und laßt sie in Ruhe!«
Meldungen von anderswo her auf dem Mars waren aussichtsreicher. Senzeni Na war in den Händen von Leuten, die sich als Boone-Anhänger bezeichneten, obwohl sie nicht mit Jackie verbunden waren. Es waren Issei, Sansei und Yonsei, die ihr Mohole sofort John Boone genannt und Thaumasia zu einer ›Neutralen Stätte Dorsa Brevia‹ proklamiert hatten. Korolyov, jetzt nur noch eine kleine Bergbaustadt, hatte fast so heftig wie 2061 revoltiert; und seine Bürger, viele von ihnen Abkömmlinge der alten Gefängnisbevölkerung, hatten die Stadt in Sergei Pavlovich Korolyov umbenannt und zu einer inoffiziellen anarchistischen Freizone erklärt. Die alten Gefängniskomplexe sollten zu einem riesigen Basar und kommunalen Wohngebiet umgewandelt werden, wobei die Flüchtlinge von der Erde besonders willkommen geheißen wurden. Nicosia war ebenso eine freie Stadt. Cairo stand unter der Kontrolle von Amexx-Sicherheitstruppen. Odessa und der Rest der Städte des Hellasbeckens hielten noch an Unabhängigkeit fest, obwohl die Strecke rund um Hellas an einigen Stellen unterbrochen war. Das System der magnetischen Schwebebahnen war in dieser Hinsicht schlecht. Damit die Strecken und Züge funktionierten, mußten die Magnetsysteme arbeiten, die aber leicht zu unterbrechen waren. Aus diesem Grund fuhren viele Züge leer oder wurden gestrichen, als die Leute auf Rover oder Flugzeuge umstiegen, um sicher zu sein, daß sie nicht irgendwo in der Wildnis strandeten in Fahrzeugen, die nicht einmal Räder hatten.
Nadia und Sax verbrachten den Rest des Sonntags damit, daß sie Entwicklungen überprüften und, wenn sie gefragt wurden, Vorschläge für Problemsituationen machten. Im allgemeinen hatte Nadia den Eindruck, daß die Dinge gut liefen. Aber am Montag kam schlechte Kunde von Sabishii. Das Expeditionscorps der UNTA war dort aus dem südlichen Gebirge eingetroffen und hatte nach einem schweren, die ganze Nacht dauernden Kampf mit den roten Guerilleros den Oberflächenteil der Stadt wieder erobert. Die Roten und die ursprünglichen Sabishiier hatten sich in das Haldenlabyrinth oder auswärtige Schutzräume zurückgezogen; es war klar, daß es im Labyrinth zu anhaltenden blutigen Kämpfen kommen würde. Art sagte voraus, daß die Sicherheitskräfte nicht imstande sein würden, in das Labyrinth einzudringen, und deshalb gezwungen sein müßten, Sabishii aufzugeben und mit Bahn oder Flugzeug nach Burroughs zu fliehen, um sich mit den bereits dort befindlichen Kräften zusammenzuschließen. Aber man konnte keineswegs sicher sein; und das arme Sabishii war durch den Angriff schwer angeschlagen und wieder in den Händen der Sicherheit.
Am Montag abend ging Nadia mit Sax los, um etwas zu essen aufzutreiben. Der Canyon von South Fossa war voller ausgewachsener Bäume. Riesige Sequoias ragten über ein unteres Stockwerk von Kiefern, Wacholdern und im tieferen Teil des Canyons Espen und Eichen empor. Während sie durch den Park am Flußufer gingen, wurden Nadia und Sax von den Mangalavidleuten einer Gruppe nach der anderen vorgestellt, zumeist Eingeborene und alles unbekannte Gesichter, aber alle sehr erfreut, sie kennenzulernen. Das war deutlich. Es war eigenartig, so viele Menschen offenbar fröhlich zu sehen. Im normalen Leben fiel einem das gar nicht auf, wie Nadia bemerkte. Überall Lächeln, Fremde, die miteinander sprachen… Es gab vieles, was entschwand, wenn eine soziale Ordnung zerbrach. Anarchie und Chaos waren gewiß allzu möglich, aber auch Gemeinschaft.