Aber so war das Leben auf dem Mars. Sie konnten binnen Minuten wie immer durch jede Menge unerwarteter Ereignisse tot sein. Sie ließ den Gedanken fallen und ging mit Sax die Treppe hinunter.
Sie wollte nach Burroughs hineingehen und etwas sehen, um an Ort und Stelle zu sein und sich selbst ein Urteil zu bilden. Umhergehen und die Bürger der Stadt anschauen, sehen, was sie machten und sagten. Spät am Donnerstag sagte sie zu Sax: »Komm, laß und hineingehen und einen Blick darauf werfen!«
Aber das schien unmöglich zu sein. »Die Sicherheit ist an allen Toren sehr streng«, sagte Maya ihr über das Armband. »Und die ankommenden Züge werden am Bahnhof scharf kontrolliert. Dasselbe gilt für die U-Bahn zum Raumhafen. Die Stadt ist geschlossen. Wir sind praktisch Geiseln.«
»Was geschieht, können wir auf dem Bildschirm sehen«, erklärte Sax. »Das macht nichts aus.«
Nadia stimmte mißmutig zu. Offenbar shikata ga nai. Aber die Situation gefiel ihr nicht, da sie sich nach ihrer Meinung zu rasch einem Patt näherte, mindestens lokal. Und sie war höchst neugierig auf die Verhältnisse in Burroughs. »Sag mir, wie es steht!« sagte sie zu Maya über die Telefonverbindung.
»Nun, sie haben die Kontrolle über die Infrastruktur«, sagte Maya. »Physikalische Versorgungsanlage, Tore und so weiter. Aber sie sind nicht genug Leute, um die Menschen in Hausarrest zu halten oder zur Arbeit zu zwingen und dergleichen. Sie scheinen also nicht zu wissen, was sie als nächstes tun sollen.«
Nadia konnte das verstehen, da auch sie einen Verlust empfand. Jede Stunde kamen mehr Sicherheitskräfte in die Stadt mit Zügen aus Kuppelstädten, die man aufgegeben hatte. Diese neu Angekommenen vereinigten sich mit ihren Kameraden und blieben in Nähe der Versorgungsanlage und der Stadtbüros. Sie bewegten sich unbehelligt in schwerbewaffneten Gruppen in der Stadt. Sie waren in Wohnbezirken von Branch Mesa, Double Decker Butte und Black Syrtis Mesa einquartiert; und ihre Anführer trafen sich mehr oder weniger ständig im UNTA-Hauptquartier in Table Mountain. Aber sie erteilten keine Befehle.
Somit waren die Dinge unbehaglich in der Schwebe. Die Büros von Biotique und Praxis dienten allen noch als Informationszentren. Sie verbreiteten Nachrichten von der Erde und dem Rest des Mars auf Bulletintafeln und Computertexten. Diese Medien bedeuteten zusammen mit Mangalavid und anderen privaten Kanälen, daß jedermann über die letzten Entwicklungen gut informiert war. Auf den großen Boulevards und in den Parks sammelten sich von Zeit zu Zeit große Menschenmassen. Aber, häufiger waren die Leute in Dutzenden kleiner Gruppen verteilt, die in einer Art aktiver Paralyse umherzogen, irgendwie zwischen einem Generalstreik und Geiselkrise. Ein jeder wartete darauf, was als nächstes geschehen würde. Die Leute schienen in guter Stimmung zu sein. Viele Läden und Restaurants waren noch offen, und Video-Interviews, die darin auf Band aufgenommen wurden, zeigten sie freundlich.
Nadia beobachtete sie, während sie eine Mahlzeit hinunterschlang, und fühlte ein schmerzhaftes Verlangen, dort drin zu sein und selbst zu den Leuten zu sprechen. Etwa um zehn an diesem Abend erkannte sie, daß sie noch stundenlang nicht würde schlafen können. Sie rief wieder Maya an und bat sie, eine Vidcambrille aufzusetzen und für sie in der Stadt spazierenzugehen. Maya, ebenso rastlos wie sie, wenn nicht noch mehr, willigte gern ein.
Bald war Maya aus dem sicheren Haus heraus, trug eine Videobrille und übertrug Bilder von dem, was sie ansah, an Nadia, die im Gemeinschaftsraum des Du Martheray-Refugiums aufmerksam in einem Sessel vor einem Bildschirm saß. Sax und einige andere sahen ihr über die Schultern, verfolgten das hüpfende Bild, welches Maya mit ihrer Kamera erhielt, und lauschten ihrem laufenden Kommentar.
Sie ging schnell den Boulevard der Großen Böschung hinunter zum Zentraltal. Als sie sich dort zwischen den Wagenverkäufern befand, verlangsamte sie ihren Schritt und sah sich gemächlich um, damit Nadia ein Panoramabild der Szene bekommen konnte. Überall waren Leute draußen, plauderten in Gruppen und genossen eine gewisse festliche Stimmung. Zwei Frauen in der Nähe von Maya begannen ein angeregtes Gespräch über Sheffield. Eine Gruppe von Neuankömmlingen ging direkt auf Maya zu und fragte sie, was als Nächstes passieren würde. Sie erwarteten sicher, daß sie das wüßte. »Bloß, weil ich so alt bin«, stellte Maya mürrisch fest, als sie fort waren. Nadia mußte darüber lächeln. Aber dann erkannten einige junge Leute Maya wirklich und kamen her, um sie fröhlich zu begrüßen. Nadia beobachtete diese Begegnung aus Mayas Sicht und merkte, wie sehr von Stars besessen diese Leute schienen. So also sah die Welt für Maya aus! Kein Wunder, daß sie sich für etwas so Besonderes hielt, wenn die Menschen sie ansahen, als wäre sie eine gefährliche Göttin, die gerade aus einer Sage herausgetreten war…
Das war in mehr als einer Hinsicht beunruhigend. Nadia schien es, daß ihre alte Gefährtin Gefahr lief, von der Sicherheit festgenommen zu werden, und sie sagte ihr das auch über ihr Armbandgerät. Aber das Bild auf dem Schirm wackelte, als Maya den Kopf schüttelte und sagte: »Schau nur, daß da keine Bullen zu sehen sind! Die Sicherheit ist um die Tore und Bahnhöfe zusammengezogen; und denen bleibe ich fern. Außerdem — warum sollten sie sich die Mühe machen, mich zu verhaften? Sie haben doch praktisch diese ganze Stadt unter Arrest.«
Maya folgte einem gepanzerten Fahrzeug, als es über den begrasten Boulevard fuhr und vorbeikam, ohne langsamer zu werden, als ob es ihren Standpunkt illustrieren wollte. Maya sagte finster: »Das geschieht, damit ein jeder die Waffen sehen kann.«
Sie ging zum Kanalpark hinunter, machte dann kehrt und stieg den Weg zum Table Mountain hoch. Es war kalt in dieser Nacht in der Stadt. Vom Kanal gespiegelte Lichter zeigten, daß das Wasser sich mit Eis bedeckte. Falls die Sicherheit aber gehofft hatte, die Leute zu entmutigen, war das nicht gelungen. Der Park war dicht gefüllt, und es kamen immer mehr Leute hinzu. Man drängte sich um Aussichtserker, Cafes oder große orangefarbene Heizspiralen. Und überall sah Maya, daß noch mehr Menschen in den Park strömten. Einige hörten Musikern zu, andere unterhielten sich mittels kleiner Schulterverstärker, wieder andere sahen sich auf ihren Handgelenken oder Lektionarschirmen die Nachrichten an. Jemand rief: »Massenversammlung um Mitternacht! Zusammenkunft im Zeitrutsch!«
Maya sagte scharfsinnig: »Ich habe davon nichts gehört. Das muß Jackies Werk sein.«
Sie sah sich so rasch um, daß das Bild auf Nadias Schirm verschwamm. Überall Menschen. Sax ging an einen anderen Schirm und rief das sichere Haus in Hunt Mesa an. Art antwortete dort, aber bis auf ihn war das Haus fast leer. Jackie hatte in der Tat zu einer Massendemonstration während des Zeitrutsches aufgerufen. Das hatte sich über alle Medien der Stadt herumgesprochen. Nirgal war mit ihr draußen.
Nadia teilte Maya das mit, und die fluchte lästerlich. »Für eine solche Sache ist es viel zu riskant. Verdammt soll sie sein!«
Aber jetzt konnte sie nichts mehr daran ändern. Tausende strömten über die Boulevards in den Kanalpark und Princess Park; und wenn Maya sich umschaute, konnte man auf den Rändern der Mesas und in den Gehröhren der Fußgängerbrücken über dem Kanalpark kleine, dichtgedrängte Gestalten erkennen. »Die Redner werden im Princess Park auftreten«, erklärte Art über Saxens Schirm.