Nirgal trat zurück und schwenkte die Hand; und die Hochrufe und Rezitationen brachen wieder aus. Nirgal stand auf der Plattform lächelnd und winkend. Er sah vergnügt aus, aber irgendwie unsicher, was als Nächstes zu tun wäre.
Während dieser ganzen Rede und des Beifalls hatte Maya sich weiter langsam vorgearbeitet; und Nadia konnte jetzt in ihrem Videobild erkennen, daß sie am Rande der Plattform in der ersten Reihe stand. Ihre Arme verdeckten das Bild immer wieder; und Nirgal bemerkte ihre Bewegungen und schaute sie an.
Als er sah, wer sie war, lächelte er, kam gleich herüber und half ihr, auf die Plattform zu kommen. Er führte sie zu den Mikrofonen, und Nadia bekam ein letztes Bild von einer überraschten und ärgerlichen Jackie Boone, ehe Maya ihre Videobrille abstreifte. Das Bild auf Nadias Schirm ruckte heftig und zeigte schließlich die Planken der Plattform. Nadia fluchte und eilte mit starkem Herzklopfen hinüber zu Saxens Schirm.
Sax hatte noch das Bild von Mangalavid, das jetzt von der Kamera auf der Gehröhre von der Brücke zwischen Ellis Butte und Table Mountain kam. Aus diesem Winkel konnte man das Menschenmeer sehen, das die Anhöhe umgab und das zentrale Tal der Stadt bis weit in den Kanalpark hinein füllte. Es mußte bestimmt fast die ganze Einwohnerschaft von Burroughs sein. Auf der Behelfsbühne schien Jackie Nirgal etwas ins Ohr zu brüllen. Nirgal antwortete ihr nicht und schritt mitten in ihrem Appell zu den Mikrofonen. Maya sah neben Jackie klein und alt aus, war aber stolz wie ein Adler; und als Nirgal ankündigte: »Hier ist Maya Toitovna!«, gab es mächtigen Applaus.
Maya fuchtelte mit den Händen, während sie nach vorn trat, und sagte in die Mikrofone: »Ruhe! Ruhe! Danke! Danke! Seid still! Wir haben hier noch einige wichtige Ankündigungen zu machen.«
»Mein Gott, Maya!« sagte Nadia und klammerte sich an die Lehne von Saxens Sessel.
»Jawohl, der Mars ist jetzt unabhängig. Ruhe! Aber wie Nirgal gerade gesagt hat, bedeutet dies nicht, daß wir unabhängig von der Erde existieren. Das ist unmöglich. Wir beanspruchen Souveränität gemäß internationalem Recht und appellieren an den Weltgerichtshof, diesen legalen Status sofort zu bestätigen. Wir haben vorläufige Verträge unterzeichnet, welche diese Unabhängigkeit versichern, und richten diplomatische Beziehungen mit der Schweiz, Indien und China ein. Wir haben auch eine nichtexklusive wirtschaftliche Partnerschaft mit der Organisation Praxis geschlossen. Diese wird wie alle Arrangements, die wir treffen, nicht auf Gewinn gerichtet sein, sondern gemeinnützig und dazu bestimmt, beiden Welten maximal von Vorteil zu sein. Mit allen diesen Abkommen zusammengenommen beginnt die Schaffung unserer formalen, legalen und semiautonomen Beziehung zu den verschiedenen gesetzlichen Körperschaften der Erde. Wir erwarten volle sofortige Bestätigung und Ratifizierung aller dieser Abkommen durch den Weltgerichtshof, die Vereinten Nationen und alle anderen relevanten Institutionen.«
Auf diese Ankündigung gab es Applaus; und obwohl der nicht so laut war wie vorher für Nirgal, ließ Maya die Leute gewähren. Als sie etwas ruhiger geworden waren, fuhr sie fort:
»Was die Lage hier auf dem Mars angeht, so haben wir die Absicht, uns hier sofort in Burroughs zu versammeln und die Erklärung von Dorsa Brevia als Ausgangspunkt für die Etablierung einer freien Marsregierung zu benutzen.«
Wiederum Applaus, viel enthusiastischer. »Ja, ja«, sagte Maya ungeduldig und versuchte, sie wieder zur Ruhe zu bringen. »Ruhe! Herhören! Vor all diesem müssen wir das Problem der Opposition ansprechen. Wie ihr wißt, treffen wir uns hier im Hauptquartier der Streitkräfte der Übergangsbehörde der Vereinten Nationen, die in diesem Augenblick zusammen mit allen übrigen von uns zuhören, da im Innern von Table Mountain.« Sie zeigte dorthin.
»Falls sie nicht herauskommen, um sich mit uns zu verbinden.« Hochrufe, Gebrüll, Sprechchöre. »…Ich will denen jetzt sagen, daß wir ihnen nicht übelwollen. Seht ihr, es ist jetzt Sache der Übergangsbehörde zu erkennen, daß der Übergang eine neue Gestalt gewonnen hat. Und ihren Sicherheitskräften zu befehlen, daß sie aufhören, uns kontrollieren zu wollen. Ihr könnt uns nicht kontrollieren!« Wilde Hochrufe, »…wollen euch nichts Böses. Und wir versichern euch, daß ihr freien Zugang zum Raumhafen habt, wo es Flugzeuge gibt, die euch alle nach Sheffield bringen können und von dort nach Clarke, falls ihr euch nicht in dieser neuen Aufgabe mit uns zusammentun wollt. Dies ist keine Belagerung oder Blockade. Es ist ganz einfach… «
Und sie hörte auf, streckte beide Hände aus; und die Menge jubelte ihr zu.
Durch den Lärm der Sprechchöre versuchte Nadia, zu Maya, die noch auf der Bühne stand, durchzudringen, aber sie konnte sie offenbar nicht hören. Aber endlich blickte Maya auf ihr Armband. Das Bild vibrierte. Ihr Arm zitterte.
»Maya, das war großartig! Ich bin so stolz auf dich.«
»Na ja, jeder kann Geschichten erfinden.«
Art sagte laut: »Sieh zu, ob du sie dazu bringen kannst, sich zu zerstreuen!«
»Richtig!« sagte Maya.
»Sprich mit Nirgal!« schlug Nadia vor. »Veranlasse ihn und Jackie, es zu tun! Sag ihnen, sie sollen den Leuten versichern, daß es keinen Angriff auf Table Mountain oder dergleichen geben wird. Überlaß das ihnen beiden!«
»O ja!« rief Maya. »Wir werden Jackie das machen lassen, nicht wahr?«
Danach schwenkte das kleine Bild am Armband überall hin, und der Lärm war so groß, daß die angeschlossenen Beobachter nichts erkennen konnten. Die Mangalavidkameras zeigten einen großen Volkshaufen auf der Bühne in Beratung.
Nadia ging weg und setzte sich auf einen Stuhl. Sie fühlte sich so ausgedörrt, als ob sie die Rede hätte selbst halten müssen. Sie sagte: »Maya war großartig. Sie hat sich an alles erinnert, was ich ihr gesagt habe. Jetzt müssen wir es nur noch verwirklichen.«
»Das bloße Aussprechen macht es real«, sagte Art. »Zum Teufel, ein jeder auf beiden Welten hat das gesehen. Praxis wird schon dran sein. Und die Schweiz wird uns sicher decken. Nein, wir werden es in die Tat umsetzen.«
»Es kann sein, daß die Übergangsbehörde nicht einverstanden ist«, wandte Sax ein. »Hier ist eine Nachricht von Zeyk gekommen. Rote Kommandos sind von Syrtis heruntergekommen. Sie haben das westliche Ende des Deichs besetzt und bewegen sich schnell darauf nach Osten. Sie sind nicht weit vom Raumhafen entfernt.«
Nadia schrie: »Genau das haben wir vermeiden wollen! Wissen die überhaupt, was sie da anrichten?«
Sax zuckte die Achseln.
»Der Sicherheit wird das gar nicht behagen«, sagte Art.
»Wir sollten direkt mit denen reden«, sagte Nadia und überlegte. »Ich habe öfters mit Hastings gesprochen, als er die Mission Control leitete. Ich kann mich nicht sehr gut an ihn erinnern, glaube aber nicht, daß er ein eklatant verrückter Typ war.«
»Es könnte nicht schaden herauszufinden, was er denkt«, sagte Art.
Also ging Nadia in ein ruhiges Zimmer, setzte sich vor einen Schirm, rief das UNTA-Hauptquartier in Table Mountain an und wies sich aus. Obwohl es schon zwei Uhr morgens war, kam sie in ungefähr fünf Minuten zu Hastings durch.
Sie erkannte ihn sofort wieder, obwohl sie sein Gesicht längst vergessen zu haben glaubte. Ein kleiner gequälter Technokrat mit schmalem Gesicht und einigem Temperament. Als er sie auf dem Schirm sah, schnitt er eine Grimasse. »Wieder ihr Leute. Wir haben die falschen Hundert geschickt. Das habe ich immer gesagt.«
»Ohne Zweifel.«
Nadia studierte sein Gesicht und suchte sich vorzustellen, was für ein Mann im vorigen Jahrhundert Mission Control geleitet haben könnte und dann im nächsten die Übergangsbehörde. Er hatte sich mit ihnen oft gestritten, als sie auf der Ares waren. Er hatte ihnen jede kleine Abweichung von den Regeln vorgeworfen und war richtig wütend geworden, wenn sie bei Verspätung unterwegs eine Zeitlang aufgehört hatten, Videos zurückzusenden. Ein sturer Bürokrat von der Art, die Arkady verabscheut hatte. Aber ein Mann, mit dem man vernünftig reden konnte.