Sie zogen die Masken übers Gesicht und gingen in die Garagenschleuse. Die Luft darin wurde sehr schnell kalt. Dann ging die Außentür auf.
Sie traten auf die Oberfläche hinaus.
Es war kalt. Dieser Schock traf Nadia an der Stirn und den Augen. Es war schwer, nicht etwas zu keuchen. Sicher lag das an dem Übergang von 500 Millibar auf 340 Millibar. Die Augen tränten, und die Nase lief. Sie atmete aus und ein. Die Lungen schmerzten von der Kälte. Die Augen waren direkt dem Wind ausgesetzt. Das war die eindrucksvollste Sinneswahrnehmung. Sie erschauerte, als die Kälte durch den Stoff ihres Schutzanzugs und in die Brust drang. Die Kälte brachte für sie einen Hauch von Sibirien mit sich.
260 K waren –13 °C. Eigentlich gar nicht so schlimm. Sie war es einfach nicht mehr gewohnt. Ihre Hände und Füße waren auf dem Mars oft sehr kalt geworden; aber es war viele Jahre her — tatsächlich mehr als ein Jahrhundert! —, seit ihr Kopf und ihre Lungen die Kälte dermaßen gespürt hatten.
Die anderen redeten laut miteinander. Ihre Stimmen klangen seltsam in der freien Luft. Keine Helm-Interkoms! Der Halsring des Anzugs, wo der Helm gesessen hätte, fühlte sich äußerst kalt an am Schlüsselbein und im Nacken. Das alte, zertrümmerte, schwarze Gestein der Großen Böschung war von einer dünnen Schicht nächtlichen Reifs bedeckt. Nadia hatte einen Rundblick, wie sie ihn nie zuvor im Helm gehabt hatte. Der kalte Wind ließ ihr Tränen die Wangen herunterrinnen. Sie empfand keine besondere Erregung. Sie war überrascht, wie die Dinge aussahen, wenn die Sicht nicht durch eine Visierscheibe oder sonstiges Fenster behindert war. Sie hatten eine scharfe halluzinatorische Klarheit, sogar bei Sternenlicht. Der Himmel im Osten zeigte ein üppiges Preußischblau der Vordämmerung mit hohen Cirruswolken, die schon Licht auffingen wie rosa Pferdeschweife. Die roten Falten der Großen Böschung erschienen im Licht der Sterne grau auf schwarz, mit schwarzen Schatten gefurcht. Der Wind in ihren Augen!
Die Leute sprachen ohne Interkom. Ihre Stimmen waren dünn und körperlos, die Münder durch die Masken verdeckt. Es gab kein mechanisches Summen, Brummen, Zischen oder Brausen. Nach mehr als einem Jahrhundert solcher Geräusche war die windige Stille im Freien seltsam, eine Art Hohlheit für die Ohren. Nazik sah aus, als trüge sie einen Beduinenschleier.
»Es ist kalt«, sagte sie zu Nadia. »Mir brennen die Ohren. Ich kann den Wind auf meinen Augen fühlen. Auf meinem Gesicht.«
»Wie lange werden die Filter reichen?« fragte Nadia Sax. Sie sprach laut, um sicher zu sein, daß er sie hören konnte.
»Hundert Stunden.«
»Jammerschade, daß die Menschen durch sie ausatmen müssen. Das müßte dem Filter viel mehr Kohlendioxid zuführen.«
»Allerdings. Aber ich sehe keinen einfachen Ausweg.«
Sie standen barhäuptig auf der Oberfläche des Mars. Sie atmeten die Luft mit nichts mehr als einer Filtermaske. Die Luft war dünn, wie Nadia merkte, aber sie fühlte sich nicht schwindelig. Der hohe Prozentsatz an Sauerstoff glich wohl den geringen atmosphärischen Druck aus. Es kam auf den Partialdruck des Sauerstoffs an. Und bei so viel Prozent Sauerstoff in der Luft…
Zeyk sagte: »Ist dies das erste Mal, daß jemand das gemacht hat?«
»Nein«, sagte Sax. »Wir haben es in Da Vinci oft getan.«
»Es ist ein schönes Gefühl. Es ist nicht so kalt, wie ich erwartet hatte.«
»Und wenn du stramm marschierst, wird es dir wärmer werden«, sagte Sax.
Sie gingen etwas umher und achteten im Dunkeln auf ihre Schritte. Es war recht kalt, ganz gleich, was Zeyk sagte. »Wir sollten wieder hineingehen«, schlug Nadia vor.
»Ihr solltet draußen bleiben und die Dämmerung betrachten. Die ist ohne Helme sehr schön«, sagte Sax.
Nadia, überrascht, von ihm eine solche Gefühlsäußerung zu hören, sagte: »Wir können noch mehr Dämmerungen sehen. Eben jetzt gibt es vieles, worüber wir sprechen müssen. Außerdem ist es kalt.«
»Es ist ein gutes Gefühl«, sagte Sax. »Schaut, da ist Kerguelenkohl. Und Sandwurz. Er kniete sich hin und schob ein behaartes Blatt zur Seite, um ihnen eine versteckte weiße Blüte zu zeigen, die in dem schwachen Licht der Vordämmerung kaum zu erkennen war.«
Nadia starrte ihn an und sagte: »Komm jetzt herein!«
Und so gingen sie zurück.
In der Schleuse legten sie ihre Masken ab und waren dann wieder im Umkleideraum des Refugiums, rieben sich die Augen und bliesen in ihre behandschuhten Hände. »Es war nicht so kalt! Die Luft roch angenehm!«
Nadia zog ihre Handschuhe aus und befühlte ihre Nase. Das Fleisch war eiskalt, aber es war nicht die weiße Kälte beginnender Erfrierungen. Sie sah Sax an, dessen Augen in wilder Erregung leuchteten, was ihm gar nicht ähnlich war — ein seltsamer und irgendwie bewegender Anblick. Übrigens sahen sie alle erregt aus, mit einer bis an Lachen grenzenden Erheiterung erfüllt, die durch die gefährliche Situation unten in Burroughs noch verschärft wurde. »Ich habe mich seit Jahren bemüht, das Sauerstoffniveau zu heben«, sagte Sax zu Nazik, Spencer und Steve.
Spencer sagte: »Ich dachte, das wäre, damit dein Feuer in Kasei Vallis so stark brennen sollte.«
»O nein. Was Feuer angeht, so ist es, wenn man eine gewisse Menge an Sauerstoff hat, mehr eine Frage, wie trocken es ist und was für Material brennen soll. Nein, dies war, um den Partialdruck des Sauerstoffs zu erhöhen, so daß Menschen und Tiere ihn atmen können. Sofern nur das Kohlendioxid vermindert wurde.«
»Hast du also auch Masken für Tiere gemacht?«
Sie lachten und gingen in den Speiseraum des Refugiums hinauf. Zeyk machte sich daran, Kaffee aufzubrühen, während sie über den Spaziergang redeten und gegenseitig die Wangen betasteten, um die Kälte zu vergleichen.
»Was ist mit der Evakuierung der Leute aus der Stadt?« fragte Nadia Sax plötzlich. »Was ist, wenn die Sicherheit die Tore geschlossen hält?«
»Sie gehen zum Raumhafen hinaus«, rief jemand aus dem Nachrichtenraum. »Die Sicherheitskräfte nehmen die Untergrundbahn zum Raumhafen. Sie verlassen das Schiff, die Schufte. Und Michel sagt, daß der Bahnhof — die Südstation — zerstört ist!«
Das bewirkte einen Tumult. Über diesen hinweg sagte Nadia zu Sax: »Wir wollen Hunt Mesa den Plan mitteilen und dann nach unten gehen und die Masken holen.«
Sax nickte.
Zwischen Mangalavid und den Armbandgeräten gelang es ihnen, der Bevölkerung von Burroughs den Plan sehr rasch bekanntzugeben, während sie in einer großen Karawane von Du Martheray zu einer niedrigen Reihe von Hügeln südwestlich der Stadt fuhren. Bald nach ihrer Ankunft schwebten die zwei Flugzeuge mit den Masken gegen Kohlendioxid über Syrtis ein und landeten auf einer freigemachten Stelle der Ebene gleich außerhalb der westlichen Böschung der Kuppelmauer. Auf der anderen Seite hatten die Beobachter der Stadt auf der Double Decker Butte schon gemeldet, daß sie gesehen hatten, wie sich die Flut aus Ostnordost näherte. Dunkelbraunes, von Eis geflecktes Wasser, das durch die Falte hereinkam, die in der Stadt vom Kanalpark besetzt war. Und die Meldungen über den Südbahnhof hatten sich bewahrheitet. Die Ausrüstung der Piste war durch eine Explosion in dem linearen Induktionsgenerator zerstört. Niemand wußte genau, wer das getan hatte. Aber es war geschehen, und die Züge waren zum Stillstand verurteilt.
Während Zeyks Araber die Kisten mit den Masken nach den westlichen, südwestlichen und südlichen Toren schafften, versammelten sich riesige Volksmengen bereits in jedem davon. Alle trugen entweder Schutzanzüge mit Heizdrähten oder die schwersten Kleider, die sie hatten, nicht zu schwer für das, was vor ihnen lag, wie Nadia meinte, als sie zum Südwesttor ging und aus Kisten Gesichtsmasken austeilte. In diesen Tagen gingen viele Leute in Burroughs so selten auf die Oberfläche hinaus, daß sie bei Bedarf Schutzanzüge mieteten. So gab es nicht genug davon, um jeden zu versorgen, und sie mußten mit Mänteln gehen, die für das Kuppelinnere gedacht waren und ziemlich dünn waren. Meistens mangelte es auch an Kopfbedeckungen. Immerhin war mit der Nachricht über die Evakuierung auch eine Aufforderung ergangen, sich für 255 K anzuziehen. Darum trugen die meisten Leute mehrere Garnituren und waren dick vermummt.