Die Leute gingen in kleinen Gruppen und trafen dabei auf andere kleine Gruppen, so daß Freunde und Bekannte sich im Weitergehen begrüßten, oft überrascht durch vertraute Stimmen unter den Masken und vertraute Augen zwischen Maske und Kapuze oder Hut. Von der Menge stieg eine diffuse Reifwolke auf, eine Massenausatmung, die in der Sonne schnell verdunstete. Rover der Roten Armee waren von beiden Seiten der Stadt herangefahren und beeilten sich, von der Flut wegzukommen. Jetzt rollten sie langsam dahin. Ihre Vorreiter gaben Flaschen mit warmen Getränken aus. Nadia sah sie an und murmelte im Schutz ihrer Maske stumme Verwünschungen. Aber einer der Roten erkannte das an ihren Augen und sagte zu ihr gereizt: »Wir waren es nicht, die den Deich gebrochen haben, mußt du wissen. Es waren die Guerilleros von MarsErst. Es war Kasei!«
Und er fuhr weiter.
Es wurde vereinbart, daß Schluchten östlich der Strecke als Latrinen benutzt werden sollten. Man war schon weit genug nach oben gestiegen, daß die Leute oft anhielten, um in die eigenartig leere Stadt hinunterzuschauen mit ihrem neuen Burggraben von rostigem, von Eis verstopftem Wasser. Gruppen Eingeborener sangen beim Gehen Teile der Areophanie. Als Nadia das hörte, krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie murmelte: »Verdammt, Hiroko! Komm heraus, komm noch heute heraus!«
Sie entdeckte Art und ging zu ihm hinüber. Er gab über das Armband einen laufenden Kommentar, den er offenbar einer Nachrichtengesellschaft auf der Erde übermittelte. »O ja«, sagte er schnell beiseite, als Nadia ihn danach fragte. »Wir sind live. Auch wirklich gutes Video. Da bin ich sicher. Und sie können das Szenario der Flut weitergeben.«
Ohne Zweifel. Die Stadt mit ihren Mesas, jetzt von schwarzem, mit Eis verstopftem Wasser umgeben, das leicht dampfte. Die Oberfläche war aufgewirbelt, die Ränder sprudelten heftig durch Karbonisierung, wenn Wellen, die einen Lärm machten wie ein schwerer Sturm, von Norden her aufbrandeten … Die Lufttemperatur lag jetzt gerade über dem Gefrierpunkt, und das ansteigende Wasser blieb flüssig, selbst wenn es von Treibeisstücken bedeckt war. Nadia hatte noch nie etwas gesehen, das ihr deutlicher die Tatsache verriet, daß sie die Atmosphäre umgestaltet hatten — weder die Pflanzen noch das Blau des Himmels noch auch ihre Fähigkeit, die Augen frei zu halten und durch dünne Masken zu atmen. Der Anblick des Wassers, das während der Überschwemmung von Marineris gefror, wobei es in zwanzig Sekunden oder weniger von Schwarz zu Weiß wurde, hatte sie tiefer geprägt, als sie wußte. Jetzt hatten sie offenes Wasser. Die niedrige breite Bruchstelle, die Burroughs festhielt, sah wie eine gargantuanische Meeresbucht aus, die von der Flut aufgerissen wurde.
Die Leute stießen Rufe aus. Ihre Stimmen füllten die dünne Luft wie Vogelgesang über dem tiefen Continuo der Flut. Nadia wußte nicht, warum. Dann sah sie es — am Raumhafen gab es Bewegung.
Der Raumhafen lag auf einem breiten Plateau nordwestlich der Stadt; und auf ihrer jetzigen Höhe auf dem Abhang konnte die Bevölkerung von Burroughs da stehen und zusehen, wie sich die großen Tore des größten Hangars öffneten und fünf riesige Raumflugzeuge nacheinander herausrollten. Ein ominöser und irgendwie militärischer Anblick. Die Flugzeuge rollten zum Hauptterminal des Hafens, und Landebrücken fuhren aus und rasteten an ihren Seiten ein. Es ereignete sich nichts weiter, und die Flüchtlinge gingen fast eine Stunde lang auf die ersten richtigen Berge der Großen Böschung zu, bis trotz der Höhe die Rollbahnen des Raumhafens und die unteren Hälften der Hangars unter dem wässerigen Horizont lagen. Die Sonne stand inzwischen im Westen.
Die Aufmerksamkeit richtete sich auf die Stadt selbst, als das Wasser die Kuppelmauer auf der Ostseite von Burroughs aufriß und über deren Krone am Südwesttor strömte, wo sie den Stoff zerschnitten hatten. Bald danach überflutete es den Princess Park, Kanalpark und das Niederdorf, teilte die Stadt damit in zwei Teile und stieg langsam die Seitenboulevards empor, um die Dächer im unteren Teil der Stadt zu bedecken.
Mitten in diesem Schauspiel erschien einer der großen Jets am Himmel über dem Plateau. Er schien zum Fliegen viel zu langsam zu sein, wie es bei großen Flugzeugen in Bodennähe immer zu sein pflegt. Er war in Richtung Süden gestartet. Darum wurde er für die Zuschauer auf dem Boden ständig größer, ohne anscheinend an Tempo zu gewinnen, bis das tiefe Brummen der Motoren sie erreichte und die Maschine über ihre Köpfe pflügte mit der langsamen unmöglichen Schwerfälligkeit einer Hummel. Als sie nach Westen dahinrumpelte, erschien die nächste über dem Raumhafen und wandte sich an der von Wasser überschwemmten Stadt vorbei und über die Leute gen Westen. Und eins folgte dem anderen, und alle sahen gleichermaßen aerodynamisch aus, bis das letzte an ihnen vorbei am westlichen Horizont verschwunden war.
Jetzt fingen sie an, ernsthaft zu marschieren. Die schnellsten Geher machten sich davon, ohne zu versuchen, mit den langsameren zurückzubleiben. Es war wichtig, die Leute möglichst schnell vom Libya-Bahnhof fortzuschaffen. Das war allen klar. Von allen Seiten waren Züge nach Libya unterwegs, aber der Bahnhof war klein und hatte nur ein paar Rangiergleise; darum würde die Choreographie der Evakuierung schwierig werden.
Es war jetzt fünf Uhr nachmittags, die Sonne stand tief über der Erhebung von Syrtis, und die Temperatur sank rasch unter Null. Als die schnellsten Marschierer, meistens Eingeborene und die letzten Einwanderer, nach vorn preschten, zog sich die Menge in eine lange Kolonne auseinander. Die Leute in Rovern meldeten, daß sie bereits einige Kilometer lang war und ständig noch länger wurde. Diese Rover fuhren an der Reihe auf und ab, nahmen Leute auf und ließen manchmal andere heraus. Alle verfügbaren Schutzanzüge und Helme waren in Gebrauch. Cojote war auf der Bildfläche erschienen. Er kam aus Richtung des Deichs; und als Nadia seinen Felswagen erblickte, hegte sie sofort den Verdacht, daß er hinter der Zerstörung des Deichs steckte. Aber nachdem er sie fröhlich über das Armband begrüßt und gefragt hatte, wie die Dinge liefen, schlug er vor: »Wendet euch an Süd Fossa, daß sie ein Luftschiff über die Stadt schicken für den Fall, daß jemand zurückgeblieben ist und sich auf den Gipfeln der Mesas befindet. Es könnten noch Menschen drin sein, die tagsüber geschlafen und beim Aufwachen eine böse Überraschung erlebt haben.«
Er lachte wild. Aber das war eine gute Idee; und Art rief sofort an.
Nadia ging mit Maya, Sax und Art am Ende der Kolonne und lauschte auf eingehende Meldungen. Sie veranlaßte die Rover, auf den nicht benutzten Gleisen zu fahren, um zu vermeiden, daß sie Staub aufwirbelten. Sie bemühte sich, den Umstand zu ignorieren, daß sie schon ermüdet war. Es war hauptsächlich Mangel an Schlaf und nicht Erschöpfung der Muskeln. Aber die Nacht würde lang werden. Und nicht nur für sie selbst. Viele Menschen auf dem Mars waren reine Stadtbewohner und es nicht gewohnt, große Strecken zu marschieren. Sie hatte das auch nur selten getan, obwohl sie auf ihren Baustellen oft zu Fuß unterwegs gewesen war und keinen Schreibtischjob hatte wie viele dieser Leute. Zum Glück folgten sie einer Piste und konnten, wenn sie wollten, sogar auf ihrer glatten Oberfläche gehen, zwischen den Hängeschienen zu beiden Seiten und der Reaktionsschiene in der Mitte. Die meisten zogen es aber vor, auf den Beton- oder Kieswegen zu bleiben, die an der Piste entlangliefen.