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So trottete Nadia weiter, manchmal Hand in Hand mit Maya oder Art, manchmal in ihrer eigenen Welt. Ihr Geist wanderte in der schneidenden Kälte und erinnerte sie an merkwürdige Bruchstücke der Vergangenheit. Sie dachte an einen anderen gefährlichen Marsch in der Kälte, den sie in dieser ihrer Welt unternommen hatte, draußen im großen Sturm mit John beim Rabe-Krater… auf der Suche nach dem Transponder mit Arkady … mit Frank in Noctis Labyrinthus in der Nacht, da sie dem Angriff auf Cairo entkamen … Auch in jener Nacht war sie in eine verrückte kalte Fröhlichkeit verfallen — vielleicht als Reaktion auf eine Befreiung von Verantwortung, indem sie nicht mehr als ein Fußsoldat wurde, der der Führung von jemand anderem folgte. Einundsechzig war eine solche Katastrophe gewesen. Auch diese Revolution konnte sich zu einem Chaos entwickeln. Das hatte sie sich eigentlich schon. Niemand hatte die Führung. Aber über ihr Armband kamen von überall her noch Stimmen herein. Und niemand würde sie aus dem Weltraum angreifen. Die radikalsten Elemente der Übergangsbehörde waren in Kasei Vallis wahrscheinlich getötet worden — ein Aspekt von Arts integrierter Seuchenbekämpfung, der kein Spaß war. Und der Rest der UNTA war rein zahlenmäßig überwältigt worden. Sie waren so wie jeder andere auch nicht fähig, einen ganzen Planeten von Dissidenten zu beherrschen. Oder zu verängstigt, es zu versuchen.

Also hatten sie es geschafft, es diesmal anders zu machen. Oder aber die Verhältnisse auf der Erde hatten sich einfach geändert, und alle verschiedenen Phänomene der Geschichte des Mars waren nur verzerrte Abklatsche dieser Veränderungen. Durchaus möglich. Ein beunruhigender Gedanke, wenn man die Zukunft betrachtete. Aber das kam erst später. Sie würden mit alledem konfrontiert sein, wenn es so weit wäre. Jetzt mußten sie sich nur Gedanken machen, den Libya- Bahnhof zu erreichen. Der rein physische Charakter dieses Problems und seiner Lösung gefiel ihr ungeheuer. Endlich etwas, bei dem sie mit Hand anlegen konnte. Gehen. Die kalte Luft atmen. Die Lungen aus dem Rest von ihr erwärmen, vom Herzen aus — etwas wie Nirgals unheimliche Umverteilung von Wärme, wenn sie das nur könnte!

Es schien so, als ob sie wirklich kleine Ausbrüche von Schlaf erhaschen könnte, während sie ging. Sie fürchtete, es könnte sich um Kohlendioxidvergiftung handeln, raffte sich aber von Zeit zu Zeit immer wieder auf. Ihre Kehle war sehr wund. Das hintere Ende der Kolonne wurde immer langsamer, und Rover fuhren jetzt dorthin zurück, nahmen alle Erschöpften auf und fuhren sie bergauf zum Libya-Bahnhof, wo sie sie absetzen und für eine andere Ladung zurückkehren konnten. Sehr viel mehr Leute begannen, an Höhenkrankheit zu leiden; und die Roten sagten Betroffenen über ihre Armbänder, wie sie die Masken ablegen und speien und dann die Masken wieder aufsetzen könnten, ehe sie wieder atmeten. Bestenfalls eine schwierige und unangenehme Maßnahme, zumal viele sowohl an Kohlendioxidvergiftung wie Höhenkrankheit litten. Aber sie kamen ihrem Ziel näher. Die Armbandbilder vom Libya-Bahnhof sahen aus wie das Innere einer Untergrundbahn von Tokio zur Stoßzeit; aber regelmäßig kamen Züge an und fuhren ab, so daß es schien, daß für später Ankommende Raum sein würde.

Ein Rover fuhr neben ihnen vor und fragte, ob sie mitgenommen werden wollten. Maya sagte: »Macht euch fort von hier! Seht ihr nicht, was los ist? Los, helft den Leuten da, verschwendet nicht weiter unsere Zeit!«

Der Fahrer verschwand rasch, um weiterem Tadel zu entgehen. Maya sagte heiser: »Zur Hölle mit so etwas! Ich bin hundertdreiundvierzig Jahre alt und will verdammt sein, wenn ich nicht den ganzen Weg marschiere. Laßt uns etwas schneller gehen!«

Sie behielten ihr Tempo bei. Sie blieben weiter am Ende der Kolonne und beobachteten die Parade der Lichter, die im Dunst vor ihnen hüpften. Nadias Augen schmerzten schon seit einigen Stunden; aber jetzt wurde das wirklich schlimm. Die Taubheit der Kälte half offenbar nicht mehr. Die Augen waren äußerst trocken und sandig in den Höhlen. Zwinkern verursachte stechende Schmerzen. Es wäre eine gute Idee gewesen, neben den Masken auch Schutzbrillen zu haben.

Nadia stolperte über einen Stein, den sie nicht gesehen hatte; und ihr fiel eine Erinnerung aus ihrer Jugend ein. Einmal hatten sie und ihre Arbeitskameraden im Winter in südlichen Ural eine Lastwagenpanne gehabt. Sie mußten vom Ende der verlassenen Tscheljabinsk-65 bis Tscheljabinsk-40 marschieren, über fünfzig eisige Kilometer stalinistisch verwüsteten industriellen Ödlands — schwarze aufgegebene Fabriken, zerbrochene Schornsteine, umgefallene Zäune, ausgeweidete Lastwagen… alles in der schneeigen kalten Winternacht unter niedrigem Gewölk. Sie erzählte Maya, Art und Sax davon mit rauher Stimme. Die Kehle tat weh, aber nicht so schlimm wie die Augen. Sie hatten sich an Interkoms gewöhnt. Es war merkwürdig, durch die Luft zwischen ihnen zu sprechen. Aber sie wollte reden. »Ich weiß nicht, wie ich jemals diese Nacht habe vergessen können. Aber ich habe seit sehr langer Zeit nicht mehr daran gedacht. Es muß vor — na — hundertzwanzig Jahren gewesen sein.«

»An diese Nacht wirst du dich sicher auch erinnern«, sagte Maja.

Sie tauschten kurze Geschichten aus über die größte Kälte, welche sie erlebt hatten. Die zwei russischen Frauen konnten zehn Fälle aufzählen, die kälter gewesen waren als die kältesten, mit denen Sax oder Art aufwarten konnten. Art fragte: »Wie wäre es mit dem heißesten Erlebnis? Da kann ich gewinnen. Ich war einmal bei einem Holzsägewettbewerb in der Kettensägeabteilung. Dabei kommt es darauf an, wer die stärkste Säge hat. Darum tauschte ich den Motor der meinigen mit einem von einer Harley-Davidson aus und schnitt das Holz in weniger als zehn Sekunden. Aber die Motoren von Motorrädern haben Luftkühlung, und meine Hände wurden ganz schön heiß!«

Sie lachten. Maya erklärte: »Das zählt nicht. Es war nicht dein ganzer Körper.«

Es waren weniger Sterne zu sehen als zuvor. Erst schob Nadia das auf den feinen Staub in der Luft oder die Schwierigkeit mit ihren sandigen Augen. Aber dann schaute sie auf ihr Armband und sah, daß es fast fünf Uhr morgens war. Bald kam die Dämmerung. Und Libya-Bahnhof war nur noch ein paar Kilometer entfernt. Die Temperatur betrug 256 Kelvin.

Sie kamen bei Sonnenaufgang an. Es wurden Tassen mit heißem Tee ausgegeben, der wie Ambrosia duftete. Der Bahnhof war so voll, daß man nicht hineingehen konnte, und mehrere tausend Leute warteten draußen. Aber die Evakuierung war seit einigen Stunden glatt verlaufen, organisiert von Vlad, Ursula und einer ganzen Schar Bogdanovisten. Auf allen drei Pisten kamen immer noch Züge aus Osten, Süden und Westen an. Sie wurden rasch beladen und fuhren gleich wieder ab. Und Luftschiffe schwebten über den Horizont ein. Die Bevölkerung von Burroughs wurde aufgeteilt. Einge kamen nach Elysium, einige nach Hellas und weiter südlich nach Hiranyagarbha und Christianopolis, andere zu den kleinen Städten auf dem Weg nach Sheffield einschließlich Underhill.

So warteten sie, bis sie an die Reihe kamen. In dem Dämmerlicht konnten sie erkennen, daß bei allen die Augen stark von Blut unterlaufen waren, was zusammen mit den von Staub bedeckten Masken noch über den Mündern den Leuten ein wildes und blutiges Aussehen gab. Sicher müßte man im Freien Schutzbrillen tragen.

Endlich geleiteten Zeyk und Marina die letzte Gruppe in den Bahnhof. Bis dahin hatten einige der Ersten Hundert einander gefunden und sich an einer Wand zusammengedrängt, angezogen von dem Magnetismus, der sie in einer Krise immer zusammenführte. In der letzten Gruppe waren mehrere von ihnen: Maya und Michel, Nadia, Sax und Ann, Vlad, Ursula, Marina, Spencer, Ivana, der Cojote …