Drüben an den Gleisen dirigierten Jackie und Nirgal Menschen in Züge. Sie schwenkten die Arme wie Dirigenten einer Sinfonie und beruhigten jene, deren Beine in letzter Minute versagten. Die Ersten Hundert gingen zusammen auf den Bahnsteig. Maya übersah Jackie, als sie hinter ihr auf einen Zug zuging. Nadia folgte Maya hinein, und dann kam der Rest von ihnen. Sie gingen den Mittelgang entlang, vorbei an all den fröhlichen zweifarbigen Gesichtern — braun mit Staub von oben und sauber um den Mund herum. Auf dem Boden lagen einige schmutzige Gesichtsmasken, aber die meisten Leute hielten sie noch beim Gehen zusammengefaltet in den Händen.
Bildschirme vorn in jedem Waggon übertrugen einen Film, den ein Luftschiff von Burroughs zeigte, das an diesem Morgen ein See aus von Eis bedecktem Wasser war, wobei das Eis vorherrschte, obwohl überall auch schwarze eisfreie Stellen waren. Über diesem neuen See standen die neun Mesas der Stadt, jetzt neun Inseln mit steilen Klippen, nicht sehr hoch. Die restlichen Dachgärten und Fensterreihen wirkten über dem schmutzigen Packeis sehr merkwürdig.
Nadia und der Rest der Ersten Hundert folgten Maya durch die Waggons bis zum letzten. Maya wandte sich um und sah sie alle, die das kleine Abteil des Zuges füllten, und sagte: »Was, geht der hier nach Underhill?«
»Odessa«, sagte Sax zu ihr.
Sie lächelte.
Leute standen auf und gingen nach vorn, damit sich die alten in dem Schlußabteil zusammen hinsetzen konnten. Und sie lehnten diese Höflichkeit nicht ab. Sie bedankten sich und nahmen Platz. Bald danach waren auch die Abteile vor ihnen voll. Vlad sagte etwas darüber, daß der Kapitän als letzter das sinkende Schiff verläßt.
Nadia fand diese Bemerkung deprimierend. Sie war jetzt wirklich müde und konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal geschlafen hatte. Sie hatte Burroughs gern gehabt, und eine große Anzahl von Mannstunden war hineingeflossen, es zu erbauen… Sie entsann sich, was Nanao über Sabishii gesagt hatte. Auch Burroughs war in ihren Gedanken. Vielleicht würden sie, wenn sich die Küste des neuen Ozeans gefestigt hatte, irgendwo anders ein neues Burroughs erbauen.
Vorerst nun saß Ann auf der anderen Seite des Waggons, und Cojote kam durch den Mittelgang zu ihnen, blieb stehen, um das Gesicht an das Fensterglas zu pressen, und machte Nirgal und Jackie, die noch draußen waren, ein Zeichen mit erhobenem Daumen. Beide stiegen einige Waggons vor dem letzten in den Zug. Michel lachte über etwas, das Maya gesagt hatte; und Ursula, Marina, Vlad, Spencer — diese Mitglieder von Nadias Familie waren um sie und in Sicherheit, wenigstens für den Moment. Und da dieser Moment alles war, das sie je gehabt hatte … fühlte sie, wie sie in ihrem Sitz zerschmolz. Sie würde in wenigen Minuten eingeschlafen sein. Das spürte sie an ihren trockenen brennenden Augen. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Sax schaute auf sein Armband, und Nadia fragte ihn schläfrig: »Was geschieht auf der Erde?«
»Der Meeresspiegel steigt noch. Er ist jetzt vier Meter höher. Es sieht so aus, als hätten die Metanationalen die Kämpfe eingestellt, jedenfalls zeitweilig. Der Weltgerichtshofhat einen Waffenstillstand ausgehandelt. Praxis hat alle Hilfsmittel in Fluthilfe gesteckt. Einige andere Metanationalen scheinen es ebenso machen zu wollen. Die UN-Generalversammlung ist in Mexico City zusammengetreten. Indien hat erklärt, einen Vertrag mit einer unabhängigen Marsregierung zu haben.«
»Das ist eine verteufelte Geschichte«, sagte Cojote von der anderen Seite des Abteils. »Indien und China sind für uns zu groß, um damit fertig zu werden. Abwarten und zusehen!«
»Also ist der Kampf da unten zu Ende?« sagte Nadia.
»Es ist noch nicht sicher, ob das für die Dauer ist oder nicht«, erwiderte Sax.
Maya knurrte. »Auf keinen Fall währt er ewig.«
Sax zuckte die Achseln.
»Wir müssen eine Regierung bilden«, sagte Maya, »und zwar schnell, und der Erde eine geschlossene Front bieten. ]e besser etabliert wir wirken, desto weniger ist es wahrscheinlich, daß sie uns vernichtend angreifen werden.«
»Sie werden kommen«, sagte Cojote vom Fenster her.
»Nicht, wenn wir sie überzeugen, daß sie von uns alles bekommen werden, das sie sich selbst genommen hätten«, sagte Maya, die sich über Cojote ärgerte. »Das wird sie mäßigen.«
»Kommen werden sie auf jeden Fall.«
»Wir werden nie außer Gefahr sein, ehe nicht die Erde ruhig und stabilisiert ist«, erklärte Sax.
»Die Erde wird nie zur Ruhe kommen«, warf Cojote ein.
Sax zuckte die Achseln.
»Wir sind es, die sie beruhigen müssen!« rief Maya und zeigte mit einem Finger auf Cojote. »Um unserer selbst willen!«
»Die Erde areoformen«, sagte Michel mit einem ironischen Lächeln.
»Gewiß, warum nicht?« sagte Maya. »Wenn es erforderlich ist.«
Michel beugte sich vor und gab Maya einen Kuß auf ihre staubige Wange.
Cojote schüttelte den Kopf und sagte: »Das ist, als wollte man die Welt ohne einen Angelpunkt bewegen.«
»Der Angelpunkt steckt in unseren Köpfen«, erwiderte Maya zu Nadias Erstaunen.
Auch Marina blickte auf ihr Handgelenk und sagte: »Die Sicherheit hat immer noch Clarke und das Kabel. Peter sagt, sie haben von Sheffield nur noch die Steckdose behalten. Und jemand — he, irgendwer — will Hiroko in Hiranyagarbhagesehen haben.«
Sie schwiegen und hingen ihren Gedanken nach.
Nach einer Weile sagte Cojote: »Ich habe Einblick in die UNTA-Akten jener ersten Eroberung von Sabishii genommen. Da wurde Hiroko überhaupt nicht erwähnt, noch jemand aus ihrer Gruppe. Ich glaube nicht, daß sie sie erwischt haben.«
»Was geschrieben ist, hat mit dem, was geschah, nichts zu tun«, sagte Maya finster.
»Hiranyagarbha bedeutet im Sanskrit ›Der goldene Keim‹«, erklärte Marina.
Nadia krumpfte sich das Herz zusammen. Komm heraus, Hiroko — dachte sie. Verdammt noch mal, komm heraus! Michels Gesicht verriet Kummer. Seine ganze Familie verschwunden …
»Wir können nicht sicher sein, ob wir den Mars schon ganz haben«, sagte Nadia, um ihn abzulenken Sie sah ihm in die Augen. »In Dorsa Brevia haben wir uns nicht einigen können. Warum sollten wir es jetzt tun?«
»Weil wir frei sind«, entgegnete Michel, sich wieder zusammenraffend. »Das ist jetzt real. Wir sindfrei, es zu versuchen. Und man steckt alles Bemühen nur dann in etwas, wenn es kein Zurück gibt.«
Der Zug wurde langsamer, um die Äquatorpiste zu kreuzen, und sie wurden mit ihm hin und her geschüttelt.
Cojote sagte: »Es gibt Rote, die alle Pumpstationen in Vastitas in die Luft jagen. Ich glaube nicht, daß wir irgendeine Übereinstimmung hinsichtlich der Terraformung erzielen werden.«
»Das ist sicher«, sagte Ann mit heiserer Stimme. Sie räusperte sich. »Wir wollen auch die Soletta beseitigen.«
Sie sah Sax scharf an, aber der zuckte nur die Achseln.
»Ökopoiesis«, meinte er. »Wir haben schon eine Biosphäre. Das ist alles, was wir brauchen. Eine schöne Welt.«