Ungefähr ein Jahr später begann Sax die Kinder zu unterrichten. Er stand an der Wandtafel und klang wie eine unpersönliche Künstliche Intelligenz. Hinter seinem Rücken pflegten sie mit den Augen zu rollen und Grimassen zu schneiden, während er sich monoton über Partialdrücke oder infrarote Strahlen ausließ. Dann bemerkte einer von ihnen eine Lücke und fing mit dem Spiel an. Dagegen war er hilflos. Er sagte so etwas wie: »Bei nicht zitternder Thermogenese erzeugt der Körper Wärme durch Verwendung unwesentlicher Zyklen.« Darauf hob einer die Hand und fragte: »Aber warum denn, Sax?« Und alle starrten fest auf ihr Pult, ohne sich gegenseitig anzuschauen, während Sax die Stirn runzelte, als ob das noch nie passiert wäre, und sagte: »Nun, er erzeugt Wärme, ohne so viel Energie zu verbrauchen, wie das Zittern erfordert. Die Muskelproteine kontrahieren; aber anstatt zuzupacken, gleiten sie nur übereinander, und das erzeugt die Wärme.«
Jackie fragte so treuherzig, daß es fast der ganzen Klasse entging: »Aber wie denn?«
Jetzt fing Sax an zu zwinkern, so schnell, daß sie fast platzten, als sie ihn anschauten. »Nun, die Aminosäuren in den Proteinen haben zerbrochene kovalente Bindungen, und die Bruchstellen lassen das frei, was man als Energie der Dissoziation von Bindungen bezeichnet.«
»Aber wie denn?«
Er zwinkerte noch stärker. »Nun, das ist eben eine Sache der Physik.« Er zeichnete heftig Diagramme an die Tafel. »Kovalente Bindungen entstehen, wenn zwei atomare Orbitale sich verschmelzen, um ein einziges Bindungsorbital zu bilden, das mit Elektronen aus beiden Atomen besetzt ist. Die Trennung der Bindung setzt dreißig bis einhundert Kilokalorien gespeicherter Energie frei.«
Jetzt fragten mehrere von ihnen im Chor: »Aber warum?«
Das brachte ihn zur subatomaren Physik, wo die Kette von warum und weil noch eine halbe Stunde weitergehen konnte, ohne daß er jemals etwas sagte, das sie verstehen konnten. Schließlich merkten sie, wenn sich das Spiel dem Ende näherte.
»Aber warum?«
»Nun«, sagte er und verdrehte die Augen, um sich zurückzuziehen, »Atome wollen ihre stabile Elektronenanzahl bekommen und teilen sich Elektronen, wenn das nötig ist.«
»Aber warum?«
Jetzt saß er sichtlich in der Falle. »So ist es nun einmal, wenn sich Atome verbinden. Eine der Möglichkeiten.«
»Aber WARUM?«
Ein Achselzucken. »So funktioniert die atomare Kraft. So sind die Dinge zustande gekommen … «
Und alle brüllten los: »… im Urknall.«
Sie jubelten fröhlich auf; und Sax machte ein finsteres Gesicht, als er merkte, daß sie ihn wieder einmal gefoppt hatten. Er seufzte und kam darauf zurück, wo er stehengeblieben war, als das Spiel anfing. Aber sie fingen immer wieder damit an, und er schien sich nie zu erinnern, solange das erste Warum plausibel genug war. Und selbst dann, wenn er merkte, was geschah, schien er hilflos zu sein, ihm Einhalt zu gebieten. Seine einzige Verteidigung war, daß er mit leicht gerunzelter Stirn sagte: »Warum was?« Das hemmte das Spiel für eine Weile; aber dann wurden Nirgal und Jackie immer geübter in der Entscheidung, was bei irgendeiner Äußerung am meisten ein Warum verdiente. Und solange sie das tun konnten, fühlte Sax sich verpflichtet weiter zu antworten, bis hin zum Urknall oder ab und zu einem gemurmelten »Wir wissen es nicht«.
»Wir wissen es nicht!« pflegte die Klasse in geheucheltem Mißmut zu rufen. »Warum denn nicht?«
Dann erklärte er mürrisch: »Es konnte noch nicht erklärt werden. Noch nicht.«
Und so vergingen die guten Vormittage mit Sax. Sowohl er wie die Kinder schienen sich einig zu sein, daß sie besser wären als die schlechten Vormittage, wenn er ohne Unterbrechungen dahinleierte und vorwurfsvoll rief: »Dies ist wirklich wichtig«, wenn er sich von der Tafel abwandte und sah, wie viele Köpfe schnarchend auf den Pulten lagen.
Eines Morgens blieb Nirgal, der sich Gedanken machte über Saxens mürrisches Gesicht, in der Schule zurück, bis nur noch er und Sax übrig waren. Dann fragte er: »Warum mögen Sie es nicht, wenn Sie nicht sagen können, warum?«
Sax runzelte die Stirn. Nach langem Schweigen sagte er langsam: »Ich versuche zu verstehen. Schau, ich achte sehr genau auf die Dinge. So genau ich nur kann. Ich konzentriere mich auf die Besonderheit jedes Augenblicks. Und ich möchte verstehen, warum es so geschieht, wie es ist. Ich bin neugierig. Und ich denke, daß alles, was geschieht, einen Grund hat. Alles. Also sollten wir fähig sein, diese Ursachen herauszufinden. Wenn wir das nicht können — na schön. Das gefällt mir nicht. Es ärgert mich. Manchmal nenne ich es … « — er warf Nirgal einen scheuen Blick zu, und Nirgal erkannte, daß er das noch nie jemandem gesagt hatte —, »ich nenne es das große Unerklärbare.«
Es war die weiße Welt, merkte Nirgal plötzlich. Die weiße Welt innerhalb der grünen, das Gegenteil von Hirokos grüner Welt innerhalb der weißen. Und ihre diesbezüglichen Gefühle waren gegensätzlich. Wenn Hiroko mit etwas Geheimnisvollem konfrontiert war, sah sie es von der grünen Seite, liebte es, und es machte sie glücklich. Es war Viriditas, eine heilige Kraft. Von der weißen Seite gesehen, wenn Sax auf etwas Mysteriöses traf, war es das Große Unerklärliche, gefährlich und furchtbar. Er war am Wahren interessiert, Hiroko dagegen am Realen. Oder vielleicht war es gerade umgekehrt. Diese Wörter sind so tückisch. Besser war es zu sagen, daß sie die grüne Welt liebte und er die weiße.
»Aber ja!« sagte Michel, als Nirgal ihm diese Beobachtung mitteilte. »Sehr gut, Nirgal. Deine Sehweise ist so klug. In archetypischen Terminologien könnten wir mit Grün und Weiß den Mystiker und den Wissenschaftler bezeichnen. Beide sind höchst mächtige Figuren, wie du siehst. Aber was wir brauchen, ist, wenn du mich fragst, eine Kombination dieser zwei, die wir den Alchemisten nennen.«
Das Grüne und das Weiße.
Am Nachmittag waren die Kinder frei zu tun, was sie wollten; und manchmal blieben sie mit dem Lehrer des Tages zusammen, aber noch öfter liefen sie zum Strand oder spielten im Dorf, das in eine Gruppe niedriger Hügel eingebettet war, halbwegs zwischen dem Teich und dem Tunneleingang. Sie stiegen die Wendeltreppen der großen Bambusbaumhäuser hinauf und spielten Verstecken zwischen den übereinanderliegenden Räumen und den Seitenästen und Hängebrücken dazwischen. Die Bambusschlafstätten bildeten eine Sichel, innerhalb derer sich der größte Teil des Dorfs befand. Jeder große Sproß war fünf oder sieben Segmente hoch, von denen ein jedes ein Zimmer bildete, das mit der Höhe immer kleiner war. Die Kinder hatten jeder einen eigenen Raum in den obersten Abschnitten der Stämme — vertikale Zylinder mit Fenstern, die vier oder fünf Fuß breit waren, wie die Türme der Schlösser in ihren Geschichten. Unter ihnen hatten in den mittleren Segmenten die Erwachsenen ihre Zimmer, meistens allein, aber manchmal auch paarweise. Und die Segmente am Boden waren Wohnund Aufenthaltsräume. Aus den Fenstern der obersten Zimmer blickte man auf die Dächer des Dorfes, die im Kreis von Hügeln, Bambus und Gewächshäusern wie Miesmuscheln in den Untiefen des Teichs zusammengedrängt waren.
Am Strand suchten sie nach Muscheln oder spielten Ball oder schössen zwischen den Dünen auf Schaumflocken. Gewöhnlich suchten Jackie und Harmakhis die Spiele aus und führten die Mannschaften an, wenn es Teams gab. Nirgal und die Jüngeren folgten ihnen und machten die Runde durch ihre verschiedenen Freundschaften und Hierarchien, die in dem täglichen Spiel endlos abgeschliffen wurden. So wie der kleine Frantz es einmal Nadia grob erklärte: »Harmakhis haut Nirgal; Nirgal haut mich; ich haue die Mädchen.« Oft wurde Nirgal dieses Spiels überdrüssig, das Harmakhis immer gewann, und pflegte zwecks besseren Vergnügens rund um den Teich zu laufen, langsam und gleichmäßig. Dabei fiel er in einen Rhythmus, der alles auf der Welt in sich einschloß. Es war eine Freude, eine Erheiterung, einfach so zu laufen und zu laufen …