Also wurden sie Freunde. Nach der Schule ging Nirgal zum Krankenhaus, und Simon trat langsam aus der Tür. Sie gingen dann auf dem Weg über die Dünen zum Strand. Dort sahen sie zu, wie die Wellen die weiße Fläche kräuselten und dann am Ufer aufstiegen und schrumpften. Simon war viel weniger gesprächig als jeder, mit dem Nirgal bisher die Zeit verbracht hatte. Es war, als ob man mit Hirokos Gruppe schwiege. Aber es endete nie. Das war Nirgal zuerst unbehaglich. Aber nach einer Weile fand er, daß es ihm Zeit ließ, die Dinge wirklich zu betrachten. Die unter der Kuppel kreisenden Möwen, die Blasen der Sandkrabben im Sand, die Kreise, die im Sand jeden Büschel Dünengras umgaben. Peter war jetzt wieder oft in Zygote und kam an vielen Tagen mit ihnen. Gelegentlich unterbrach sogar Ann ihre ständigen Reisen, besuchte Zygote und kam mit ihnen zusammen. Peter und Nirgal rannten umher und spielten Fangen oder Verstecken und Suchen, während Ann und Simon Arm in Arm über den Strand spazierten.
Aber Simon war noch schwach und wurde immer schwächer. Es war schwer, darin kein moralisches Versagen zu sehen. Nirgal war nie krank gewesen und fand diesen Gedanken widerlich. Es konnte nur den Alten passieren. Und selbst von denen konnte man erwarten, daß sie durch geriatrische Behandlung gerettet werden könnten, wie sie ein jeder im Alter erhielt, so daß er niemals starb. Nur Pflanzen und Tiere starben. Aber Menschen waren auch Tiere. Sie hatten aber die Behandlung erfunden. Eines Abends, als er sich über diese Widersprüche wunderte, las Nirgal den ganzen Beitrag seines Nachschlagewerks über Leukämie, obwohl er so lang war wie ein Buch. Blutkrebs. Weiße Zellen vermehrten sich aus dem Knochenmark, überschwemmten den Organismus und griffen gesunde Systeme an. Man gab Simon Chemikalien und Bestrahlung und Pseudoviren, um die weißen Blutzellen zu töten, und versuchte, das kranke Mark in ihm durch das frische Mark von Nirgal zu ersetzen. Sie hatten ihm jetzt auch schon dreimal die Altersbehandlung gegeben. Auch darüber las Nirgal etwas nach. Das war ein Verfahren, bei dem man genetische Fehler suchte, gebrochene Chromosomen fand und reparierte, so daß Zellteilungsfehler nicht mehr vorkamen. Aber es war schwierig, in Knochen mit Gruppen eingeführter Selbstheilungszellen einzudringen, und anscheinend waren in Simons Fall jedesmal kleine Bereiche von krebsbefallenem Mark zurückgeblieben. Kinder hatten bessere Genesungsaussichten als Erwachsene, wie der Leukämieartikel besagte. Aber mit den Altersbehandlungen und den Knochenmarktransfusionen war es sicher, daß es gutgehen würde. Es war einfach eine Sache der Zeit und des Spendens. Die Behandlung kurierte letztlich alles.
»Wir brauchen einen Bioreaktor«, sagte Ursula zu Vlad. Sie arbeiteten daran, einen Ektogentank in einen solchen umzubauen. Sie füllten ihn mit schwammigem tierischem Kollagen und impften ihn mit Zellen aus Nirgals Mark in der Hoffnung, eine Anzahl von Lymphozyten, Makrophagen und Granulozyten zu schaffen. Aber das Zirkulationssystem funktionierte nicht richtig. Oder vielleicht war es die Matrix. Sie waren sich nicht sicher. Nirgal blieb ihr lebender Bioreaktor.
Sax unterrichtete sie in Bodenchemie, wenn er vormittags der Lehrer war. Und er führte sie gelegentlich sogar aus dem Schulzimmer hinaus, damit sie in den Bodenlabors arbeiteten. Er fügte dem Sand Biomasse zu und fuhr ihn dann mit der Schubkarre zum Gewächshaus oder zum Strand. Diese Arbeit machte Spaß, ging aber an Nirgal vorbei wie im Schlaf. Er bekam flüchtig mit, wie Simon draußen hartnäckig spazierenging, und vergaß dabei alles, was sie machten.
Trotz den Behandlungen waren Simons Schritte langsam und steif. Er ging krumm und schwang die Beine ziemlich steif nach vorn. Einmal holte Nirgal ihn ein und stand neben ihm auf der letzten Düne vor dem Ufer. Schnepfen liefen an dem nassen Strand vor und zurück, gejagt von weißen Schaumflocken. Simon deutete auf die Herde schwarzer Schafe, die zwischen Dünen Gras zupften. Sein Arm hob sich wie eine Bambuslatte. Der gefrorene Atem der Schafe strömte auf das Gras.
Simon sagte zu Nirgal etwas, das er nicht mitbekam. Seine Lippen waren steif, und manche Worte konnte er nur mit Mühe aussprechen. Vielleicht war es dies, was ihn noch stiller machte als zuvor. Jetzt versuchte er es wieder und immer wieder; aber sosehr er sich auch bemühte, konnte Nirgal nicht raten, was er meinte. Schließlich gab Simon es auf und zuckte die Achseln. Danach sahen sie einander nur stumm und hilflos an.
Wenn Nirgal mit den anderen Kindern spielte, so ließen sie ihn teilnehmen, hielten aber Distanz, so daß er sich in einer Art von Kreis bewegte. Sax machte ihm leichte Vorwürfe wegen seiner Geistesabwesenheit in der Klasse. »Konzentriere dich auf den Augenblick!« pflegte er zu sagen und zwang ihn, die Ringe des Stickstoffzyklus aufzusagen oder die Hände tief in den feuchten schwarzen Boden zu stecken, wenn sie da arbeiteten. Er wies ihn an, ihn zu kneten, die langen Stränge von Diatomeenflor aufzubrechen und die Pilze, Flechten und Algen und all die unsichtbaren Mikrobakterien, die sie gezüchtet hatten, und sie zwischen die rostigen Klumpen von Sand und Kies zu verteilen.
»Verteilt sie so gleichmäßig wie möglich und paßt auf! Es kommt nur auf dies hier an. Dies hat eine sehr wichtige Eigenschaft. Schaut auf die Strukturen auf dem Schirm des Mikroskops! Das klare Ding hier wie ein Reiskorn ist ein Chemolithotroph, Thiobacillus denitrificans. Und das ist ein Klumpen von Sulfiden. Was wird nun passieren, wenn der erste den zweiten frißt?«
»Es oxidiert den Schwefel.«
»Und?«
»Und denitrifiziert.«
»Das ist?«
»Nitrate werden zu Stickstoff. Aus dem Boden in die Luft.«
»Sehr gut. Das ist eine sehr nützliche Mikrobe.«
So zwang Sax ihn, auf den Augenblick zu achten, aber der Preis war hoch. Nirgal war mittags erschöpft, wenn die Schule aus war. Es war schwer, am Nachmittag etwas zu tun. Dann baten sie ihn, noch mehr Mark für Simon zu spenden, der stumm und verlegen im Krankenhaus lag und mit den Augen Nirgal um Entschuldigung bat, der sich zwang zu lächeln und die Finger um Simons bambusartigen Unterarm zu legen. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er heiter und legte sich hin. Fast sicher machte Simon etwas falsch. Er war schwach oder schlapp und wollte irgendwie krank sein. Anders konnte man das nicht erklären. Sie steckten Nirgal die Nadel in den Arm, und der wurde taub. Sie stießen die intravenöse Nadel in seinen Handrücken, und nach einer Weile wurde auch der taub. Er lag auf dem Rücken als ein Teil der Struktur des Krankenhauses und versuchte sich so taub zu verhalten, wie er konnte. Ein Teil von ihm konnte die große Marknadel spüren, die gegen seinen Oberarmknochen stieß. Keine Schmerzen, überhaupt kein Gefühl in seinem Fleisch, nur ein Druck auf dem Knochen. Dann ließ es nach; und er wußte, daß die Nadel in das weiche Innere seines Knochens eingedrungen war.
Diesmal half der Prozeß überhaupt nicht. Simon war nutzlos und blieb ständig im Krankenhaus. Nirgal besuchte ihn dort von Zeit zu Zeit, und sie machten auf Simons Schirm ein Wetterspiel, drückten auf Knöpfe, um Würfel rollen zu lassen, und stießen Rufe aus, wenn der Wurf eins oder zwölf sie jäh auf einen anderen Quadranten des Mars versetzte, einen mit völlig neuem Klima. Simons Lachen, das nie mehr als ein Kichern gewesen war, war inzwischen zu einem leichten Lächeln dahingeschwunden.
Nirgals Arm tat weh, und er schlief schlecht, warf sich nachts hin und her und erwachte heiß und verschwitzt und grundlos erschrocken. Dann weckte Hiroko ihn eines Nachts aus tiefem Schlaf und führte ihn die Wendeltreppe hinunter zum Krankenhaus. Nirgal lehnte sich benommen bei ihr an, nicht imstande, voll wach zu werden. Hiroko war ungerührt wie immer, hatte aber den Arm um seine Schultern gelegt und hielt ihn mit erstaunlicher Kraft. Als sie an Ann vorbeikamen, die im Vorraum des Hospitals saß, veranlaßte etwas an deren hängenden Schultern Nirgal, sich zu fragen, warum Hiroko hier bei Nacht im Dorf war; und er bemühte sich, von Furcht gepackt, ganz wach zu werden.