Das Bettenzimmer des Krankenhauses war übermäßig hell von scharfen Lampen, die flackerten, als ob überall Glanzlichter hervorbrechen würden. Simon lag mit dem Kopf auf einem weißen Kissen. Seine Haut war blaß und wächsern. Er sah tausend Jahre alt aus.
Er wandte den Kopf und sah Nirgal. Seine dunklen Augen suchten sein Gesicht mit einem hungrigen Blick, als ob er einen Weg in sein Inneres zu finden suchte — einen Weg, zu ihm hinüberzuspringen. Nirgal schauerte es, und er parierte den starren dunklen Blick und dachte: Okay. Komm in mich herein! Tu, was du willst! Mach nur!
Aber es gab keinen Weg hinüber. Das erkannten beide und entspannten sich. Über Simons Gesicht huschte ein leichtes Lächeln, und er langte mit Mühe hin und faßte Nirgals Hand. Jetzt ruckten seine Augen hin und her. Sie suchten Nirgals Gesicht mit einer völlig anderen Miene, als ob er nach Worten suchte, die Nirgal in den kommenden Jahren helfen würden, wenn sich etwas ereignen würde, das Simon erfahren hatte.
Aber auch das war unmöglich. Wieder sahen beide das ein. Simon würde Nirgal seinem Schicksal überlassen müssen, wie es auch sein möge. Da konnte man nicht helfen. »Sei gut!« flüsterte er endlich; und Hiroko führte Nirgal aus dem Zimmer. Sie brachte ihn durch die Dunkelheit wieder in seinen Raum hinauf; und er sank in tiefen Schlaf.
Simon starb irgendwann in der Nacht.
Es war das erste Begräbnis in Zygote und für alle Kinder überhaupt das erste. Aber die Erwachsenen wußten, was zu tun war. Sie kamen in einem Gewächshaus zusammen und setzten sich zwischen den Arbeitsbänken im Kreis um den großen Kasten, der Simons Körper enthielt. Sie reichten eine Flasche Reisschnaps herum, und jeder schenkte seinem Nachbarn ein. Sie tranken das feurige Zeug aus. Dann faßten sich die Alten bei den Händen um den Sarg und setzten sich dicht gedrängt um Ann und Peter wieder hin. Maya saß bei Ann und hatte die Arme um ihre Schultern gelegt. Ann wirkte betroffen und Peter untröstlich. Jürgen und Maya erzählten Geschichten über Simons legendäre Schweigsamkeit. »Einmal«, sagte Maya, »waren wir in einem Rover, und da platzte ein Sauerstoffkanister und schlug ein Loch ins Kabinendach. Wir rannten alle schreiend herum. Simon, der draußen gewesen war, nahm einen Stein von genau der richtigen Größe, sprang hoch und preßte ihn in das Loch, wo er ihn feststopfte. Danach redeten wir alle wie verrückt durcheinander und arbeiteten an einem richtigen Stopfen. Da merkten wir plötzlich, daß Simon immer noch keinen Ton gesagt hatte. Wir hörten alle mit der Arbeit auf und sahen ihn an. ›Das war knapp‹, sagte er.«
Sie lachten. Vlad sagte: »Oder denkt an die Zeit, da wir in Underhill Ulkpreise ausgaben und Simon einen für das beste Video bekam. Er ging hin, um ihn entgegenzunehmen, sagte ›Danke!‹ und machte sich daran, wieder zu seinem Platz zu gehen. Aber dann blieb er stehen, als ob ihm noch etwas eingefallen wäre, das er sagen wollte. So ging er wieder zum Podium, was natürlich unsere Aufmerksamkeit weckte. Er räusperte sich und sagte: ›Vielen Dank!‹«
Ann lachte beinahe darüber, stand dann auf und führte sie in die frische Luft hinaus. Die Alten trugen die Kiste zum Strand hinunter, und alle anderen folgten ihnen. Es war bewölkt und schneite, als sie seine Leiche herausnahmen und tief im Sand vergruben, knapp über der Hochwassermarke. Dann nahmen sie den langen Sargdeckel und brannten mit Nadias Lötkolben seinen Namen hinein. Dann steckten sie das Brett in die erste Düne. Jetzt würde Simon ein Teil des Kohlenstoffzyklus sein als Nahrung für Bakterien und Krabben und dann Schnepfen und Möwen und damit in die Biomasse unter der Kuppel eingehen. So war es, wenn jemand beerdigt wurde. Und das war gewiß auch etwas tröstlich: sich in seiner Welt ausbreiten und sich in ihr zu verteilen. Aber als Persönlichkeit zu enden und wegzugehen …
Nachdem sie Simon im Sand begraben hatten, gingen sie alle unter der trüben Kuppel dahin und versuchten so zu tun, als ob die Realität nicht jäh zerrissen wäre und einen der ihren weggerissen hätte. Nirgal konnte es nicht glauben. Sie marschierten ins Dorf zurück, pusteten auf ihre kalten Hände und redeten mit gedämpfter Stimme. Nirgal näherte sich Vlad und Ursula in der Hoffnung auf etwas Trost. Ursula war traurig, und Vlad bestrebt, sie aufzuheitern. »Er hat mehr als hundert Jahre gelebt. Wir können seinen Tod nicht für verfrüht halten. Sonst wäre das eine Kränkung für alle jene armen Leute, die mit fünfzig, zwanzig oder einem Jahr gestorben sind.«
»Aber es war doch vorzeitig«, sagte Ursula hartnäckig. »Bei den Behandlungen — wer weiß? Er hätte tausend Jahre leben können.«
»Ich bin mir da nicht so sicher. Mir scheint, daß die Behandlungen nicht ganz zu jedem Teil unserer Körper vordringen. Und bei all der Strahlung, die wir aufgenommen haben, könnten wir mehr Schwierigkeiten haben, als wir zuerst dachten.«
»Vielleicht. Aber wenn wir in Acheron gewesen wären mit dem ganzen Team, einem Bioreaktor und sämtlichen Hilfsmitteln, so wette ich, daß wir ihn hätten retten können. Und man kann auch nicht sagen, wie viele Lebensjahre er noch hätte haben können. Das nenne ich vorzeitig.«
Ann ging fort, um allein zu sein.
In dieser Nacht konnte Nirgal überhaupt nicht schlafen. Er fühlte ständig noch die Transfusion, sah jeden Moment davon und stellte sich vor, daß es in dem Körper eine Nachwirkung gegeben haben könnte, so daß er mit der Krankheit infiziert worden wäre. Oder nur durch Berührung kontaminiert, warum nicht? Oder bloß durch den letzten Ausdruck in Simons Augen! So daß er die Krankheit erwischt hatte, die sie nicht aufhalten konnten, und er sterben würde. Steif werden, verstummen, anhalten und fortgehen. Das war Tod. Sein Herz pochte, und Schweiß drang ihm aus der Haut. Er schrie vor Angst. Man konnte ihm nicht entkommen, und es war schrecklich. Schrecklich, ganz gleich, wann es geschah. Schrecklich, daß der Zyklus einen solchen Verlauf nahm; daß er immer wieder seine Runden machte, während sie nur einmal lebten und für immer starben. Warum überhaupt leben? Es war zu fremdartig und zu schrecklich. Und so bebte er während der ganzen Nacht. Sein Geist drehte sich wie ein Zyklon in Todesangst.
Danach fand er es äußerst schwer, sich zu konzentrieren. Er hatte ein Gefühl, als ob er von den Dingen distanziert wäre, als ob er aus der weißen Welt hinausgeschlüpft wäre und die grüne nicht berühren könnte.
Hiroko erkannte dieses Problem und schlug ihm vor, Cojote auf einer seiner Fahrten nach draußen zu begleiten. Nirgal war von dieser Idee entsetzt, da er nie weiter als einen Spaziergang von Zygote entfernt gewesen war. Aber Hiroko beharrte darauf. Sie sagte, er wäre jetzt sieben Jahre alt und dabei, ein Mann zu werden. Es sei an der Zeit, etwas von der Oberflächenwelt zu sehen.
Ein paar Wochen später kam Cojote vorbei. Und als er wieder wegfuhr, war Nirgal bei ihm. Er saß auf dem Copilotenplatz in dem Felsenwagen und starrte durch die niedrige Windschutzscheibe auf den Purpurbogen des Abendhimmels. Cojote fuhr eine Runde, um ihm einen Blick auf die große leuchtende rötliche Wand der Polkappe zu geben, die den Horizont wie ein riesiger aufgehender Mond überwölbte.
»Es ist schwer zu glauben, daß etwas so Großes jemals schmelzen könnte«, sagte Nirgal.
»Es wird eine Weile dauern.«
Sie fuhren in mäßigem Tempo nach Norden. Der Felsenwagen war getarnt und mit einer ausgehöhlten Steinplatte bedeckt, die thermisch so reguliert war, daß sie die gleiche Temperatur wie die Umgebung behielt; und an der Vorderachse war ein Bodensensor, der das Terrain prüfte und die Information an die Hinterachse weitergab, wo Kratz- und Formgeräte ihre Radspuren tilgten und Sand und Steine in den Zustand vor ihrer Passage versetzten. Darum konnten sie nicht so schnell fahren.
Sie fuhren längere Zeit schweigend, obwohl Cojotes Schweigen anders war, als das von Simon gewesen war. Er summte und murmelte vor sich hin, redete mit leiser Singstimme zu seinem Computer in einer Sprache, die wie Englisch klang, aber völlig unverständlich war. Nirgal versuchte, sich auf die beschränkte Sicht durch das Fenster zu konzentrieren, und fühlte sich unbehaglich und schüchtern. Die Gegend um die Südpolkappe war eine Reihe breiter, flacher Terrassen; und sie fuhren von einer zur anderen hinab auf Routen, die dem Wagen einprogrammiert zu sein schienen. Eine Terrasse folgte der anderen, bis es schien, als ob die Polkappe auf einem hohen Piedestal ruhte. Nirgal starrte ins Dunkel, beeindruckt durch die Größe der Dinge, aber froh, daß es nicht so absolut überwältigend war wie bei seinem ersten Gang nach draußen. Das war schon lange her; aber er konnte sich noch immer genau an das umwerfende Erstaunen erinnern.