Sie rannten los, als der Läufer schwerfällig das erste seiner zahlreichen Beine aus dem Boden hob und sich zu drehen begann. Die Erde zitterte. Ein ganzes Bombardement aus Felsen und Schlamm regnete vor ihnen vom Himmel, und Charity registrierte voller Schrecken, daß die gewaltigen Säulenbeine des Kolosses noch viel größer waren, als es von weitem den Anschein gehabt hatte. Sie schätzte, daß sich der riesige ovale Leib des stählernen Käfers sicherlich siebzig oder achtzig Meter über dem Boden erhob - und die vielfach gegliederten Stelzbeine des Monsters bewegten sich mit einer Geschicklichkeit, die bei einer Maschine dieser Größe fast unmöglich schien. Das Ding war schnell.
Charity wich einem der gewaltigen Krater aus, die die Beine des Läufers im Boden hinterlassen hatten, beschleunigten ihre Schritte noch mehr und begriff gerade noch rechtzeitig genug den Grund für Skudders warnenden Schrei, um ihr Tempo wieder zu verlangsamen - um ein Haar wäre sie genau dorthin gelaufen, wo sich in diesem Moment einer der gewaltigen eisernen Käferfüße in den Boden grub. Sie schlug einen Haken nach links, duckte sich im Laufen, als ein Hagel aus Steinen und Erdreich auf sie herabpolterte, und stieß sich mit aller Kraft ab.
Der Sprung war perfekt berechnet. Sie prallte unsanft gegen den massiven Stahl des Beines, fand aber mit Händen und Füßen sicheren Halt und klammerte sich fest, als sich das riesige Käferbein wieder hob. Ehe es sich völlig vom Boden löste, kamen Skudder und Faller auf die gleiche Weise bei ihr an. Sie sah, wie Phillipsen und der dritte Soldat ein anderes Bein anvisieren wollten, und gestikulierte heftig mit den Armen.
»Nicht!« schrie sie. »Wir müssen zusammenbleiben!«
Es wurde knapp, denn der Läufer hatte seine Drehung fast vollendet, und er beschleunigte seine Schritte enorm, kaum daß sich sein stumpfes Maul wieder auf die Sturmfront im Norden ausgerichtet hatte. Sie zerrten Leßter und Phillipsen buchstäblich im letzten Moment zu sich herauf - und dann waren sie auch schon mitten drin in dem heulenden Chaos und hatten plötzlich alle Hände voll zu tun, um nicht von den eisigen Sturmböen von ihrem Halt wieder heruntergefegt zu werden.
Es wurde kalt, unglaublich kalt. Schon nach wenigen Augenblicken wich alles Gefühl aus Charitys Händen, und selbst das Luftholen tat weh. Der Läufer wurde immer schneller und drang jetzt mit der Geschwindigkeit eines D-Zuges in die Sturmfront ein. Die Temperaturen sanken mit jedem Schritt, den dieses stählerne Monstrum machte, um ein Grad. Das Schneetreiben wurde so dicht, daß sie die Gestalten der anderen nur noch als Umrisse erkennen konnte.
Skudder schrie ihr etwas zu. Der Sturm riß ihm die Worte von den Lippen und trug sie davon, ehe sie sie verstehen konnte, aber dann blickte sie in die Richtung, in die seine Hand deutete.
Nur wenige Meter über ihnen hatte sich eine ovale Klappe in der Flanke des Riesenbeines geöffnet, und der häßliche Schädel einer Moroni-Ameise schob sich ins Freie. Offensichtlich war ihre Annäherung doch bemerkt worden.
Skudder zog seine Waffe und schoß auf den Moroni. Er verfehlte ihn, aber die Insektenkreatur zog sich mit einer erschrockenen Bewegung wieder ins Innere des Beines zurück.
Für eine Sekunde.
Dann tauchte sie wieder auf, und diesmal waren ihre Hände nicht mehr leer. In ihren vier Klauen lagen gleich vier der winzigen, tödlichen Laserwaffen, mit denen sie schon öfter Bekanntschaft gemacht hatten.
Aber sie kam nicht dazu, auch nur eine davon abzufeuern.
Skudder hatte die winzige Zeitspanne genutzt, sich hastig zur Klappe hinaufzuhangeln und sich mit beiden Händen an ihren Rand zu klammern. Als sich die Ameise vorbeugte, löste er die linke Hand von ihrem Halt, packte den Hinterlauf des Moroni und zerrte mit aller Gewalt daran. Vielleicht hätte seine Kraft unter normalen Umständen nicht einmal gereicht, das Monstrum von den Füßen zu reißen, den Charity wußte nur zu gut, wie entsetzlich stark diese zwei Meter großen Insekten waren, aber genau in diesem Moment machte der Läufer einen weiteren, stampfenden Schritt, und diese doppelte Erschütterung reichte aus. Die Ameise stieß einen schrillen Laut aus, ließ zwei ihrer vier Waffen fallen und kippte haltlos ins Innere der Maschine zurück. Mit einer blitzartigen Bewegung setzte Skudder ihr nach.
Auch Charity kletterte weiter, so schnell sie konnte. Skudder war ein kräftiger Mann, aber gegen eines dieser Insektenmonster hatte er nicht die Spur einer Chance. Wenn es der Ameise gelang, ihn zu packen, würde sie ihn einfach zerreißen, ohne sich dabei auch nur anzustrengen.
Es gelang ihr nicht. Charity hatte die Tür erreicht und setzte dazu an, sich mit einem Ruck hineinzuziehen, als Skudder und der Moroni über ihr erschienen. Die Ameise hatte auch ihre beiden restlichen Waffen fallengelassen und versuchte nun mit allen vier Armen gleichzeitig, ihren Gegner zu packen, aber Skudder wich ihr mit einer geschickten Bewegung aus, ergriff plötzlich seinerseits einen der dürren chitingepanzerten Arme - und hebelte die Ameise mit einem Judo-Griff wie aus dem Lehrbuch aus. Der Moroni kreischte vor Schrecken, als er wahrscheinlich zum ersten (und mit Sicherheit zum letzten) Mal im Leben die Feststellung machte, daß sich seine eigene Kraft durchaus gegen ihn selbst wenden konnte, verlor den Boden unter den Füßen und verschwand zappelnd in den Sturmböen unter ihnen. Charity zog sich ächzend vollends durch die Tür, erhob sich auf die Knie und sah sich hastig um, wobei sie die Hand zur Waffe senkte. Aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende. Die Kammer, in der Skudder und sie sich befanden, war winzig; nichts als ein runder Zylinder aus rostrotem Eisen, der kaum Platz für sie und den Hopi bot. Die Ameise war allein gewesen.
Aus einem absurden Stolz heraus ignorierte sie Skudders hilfreich ausgestreckte Hand und stemmte sich aus eigener Kraft auf die Füße - um gleich darauf mit einem überraschten Schrei gegen Skudder zu prallen, als der Läufer einen weiteren Schritt machte und der Boden unter ihren Füßen sich plötzlich in eine schräg geneigte Rampe verwandelte. Skudder grinste so unverschämt, daß sie ihm am liebsten eine Ohrfeige verpaßt hätte, ließ ihre Schultern aber hastig los, als er das warnende Funkeln in ihren Augen gewahrte.
So gut es in der Enge der winzigen Kammer ging, traten sie von der Tür zurück, um Platz für die drei anderen zu machen.
»Und jetzt?« fragte Phillipsen überflüssigerweise, nachdem er sich als letzter zu ihnen hereingezogen hatte.
Skudder deutete nach oben. Die kleine Kammer hatte keine Decke, sondern verjüngte sich über ihnen zu einem knapp einen Meter durchmessenden, runden Schacht, an dessen Wand sich das in die Höhe zog, was eine sechsbeinige, gut zwei Meter große Kreatur wohl für eine Leiter halten mochte. Phillipsens Augen wurden rund vor Staunen. »Sie wollen ... dort hinauf?« murmelte er.
»Wir können auch hierbleiben und warten, bis sie herkommen und nachschauen, wo ihr Türsteher bleibt«, sagte Skudder spöttisch. »Wäre Ihnen das lieber?« Er streckte die Arme aus, federte kurz in den Knien ein und stieß sich mit einem kraftvollen Satz ab. Obwohl er von allen mit Abstand der größte war, erreichte er die unterste ›Sprosse‹ der Leiter erst beim dritten Versuch. Charity und die anderen halfen sich gegenseitig dabei, in die Höhe zu steigen, wobei Charity den Abschluß bildete - sie war die leichteste und mußte als letzte von Faller und Phillipsen in die Höhe gezogen werden, um die Leiter erreichen zu können.
Zumindest in einem Punkt hatten sie Glück - niemandem schien das Verschwinden der Ameise aufzufallen, die Skudder aus dem Läufer gestoßen hatte; zumindest kamen keine anderen Moroni, um sich nach dem Verbleib ihres Bruders zu erkundigen - was mit Sicherheit das Ende der kleinen Gruppe bedeutet hätte. In dem engen, völlig deckungslosen Schacht hätte ein einziger Schuß genügt, sie alle in die Tiefe zu reißen.