Dafür wurde der Aufstieg zu einem Alptraum. Die Schritte des Läufers wurden immer schneller, und sie wurden mit jedem krachenden Aufsetzen des Riesenbeines wuchtig gegen die Wand oder die Leiter geschleudert. Mehr als einmal hatte Charity das Gefühl, einfach nicht mehr weiter zu können, und als sie ungefähr die Hälfte der Strecke überwunden hatten, glitt Fallers Fuß über ihr von einer der Sprossen ab und verfehlte ihr Gesicht nur um Millimeter. Dazu kam, daß diese bizarre Leiter für Moroni gemacht war, nicht für Menschen. Die Sprossen waren zu dünn, um wirklich sicheren Halt daran zu finden, und der Abstand stimmte nicht, so daß das Klettern übermäßig viel Kraft erforderte. Charity versuchte sie zu zählen, um sich wenigstens notdürftig zu orientieren, gab es aber irgendwo weit jenseits der dreihundert schließlich wieder auf. Mehrmals mußten sie anhalten, wenn einen von ihnen die Kräfte verließen.
Keiner von ihnen sah auf die Uhr, aber Charity schätzte, daß sie länger als eine Stunde brauchten, bis sie das obere Ende der Leiter erreichten.
Ein Schwall eisiger, nach Metall und Staub riechender Luft schlug ihnen in die Gesichter, als sie sich hinter Skudder schweratmend aus dem Schacht herauszogen. Charity kroch erschöpft ein paar Schritte von der Öffnung im Boden fort und versuchte sich aufzurichten, hatte aber ebensowenig noch die Kraft dazu wie einer der anderen. Selbst Skudder lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand und tat sekundenlang nichts anders, als keuchend ein- und auszuatmen.
Unten im Schacht war es stockfinster gewesen. Hier oben herrschte ein trübes, graugefärbtes Zwielicht, das allerdings kaum ausreichte, weiter als ein paar Schritte zu sehen. Sie befanden sich in einer niedrigen, aber sehr weitläufigen Halle, deren Boden ganz sacht nach oben gekrümmt zu sein schien. So weit sie dies überhaupt sehen konnte, war sie leer.
Charity setzte sich mühsam weiter auf, fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und registrierte mit einer Mischung aus Überraschung und Schrecken, daß der Schweiß auf ihrer Haut bereits zu gefrieren begann. Ihre Finger- und Zehenspitzen prickelten, und ihre Lippen fühlten sich taub an und waren gesprungen. Sie hatte das bisher auf die Anstrengung geschoben, aber sie begriff plötzlich, daß das nicht stimmte. Es war kalt hier drinnen. Viel kälter noch als draußen. Erschrocken blickte sie auf das Außenthermometer ihres Anzuges. Es zeigte neunzehn Grad unter Null an.
»Verdammt kalt hier drinnen, nicht wahr?« fragte Skudder. Er hatte ihren Blick bemerkt. »Irgendwas scheint mit der Heizung nicht zu stimmen.«
Charity lächelte pflichtschuldig und stand vorsichtig auf. Der Boden schwankte noch immer unter ihren Füßen, so daß sie im ersten Moment erschrocken die Hände ausstreckte, um ihre Balance zu halten.
Wahllos wandten sie sich nach rechts und marschierten los. Ihre Schritte erzeugten unheimliche, lang widerhallende Echos in der Weite der vollkommen leeren, stählernen Halle, und das blasse graue Licht gab Charity das Gefühl, durch einen endlosen Nebel zu wandern. Sie konnte noch immer nichts erkennen, was weiter als acht oder zehn Schritte von ihnen entfernt war. Dafür begann sie um so deutlicher die bizarren Geräusche wahrzunehmen, die an ihr Ohr drangen: Da war noch immer das rhythmische Stampfen der gewaltigen Käferbeine, darüber aber auch ein dumpfes, dröhnendes Hämmern, das sie auf unheimliche Weise an das Schlagen eines gewaltigen metallenen Herzens erinnerte. Manchmal erzitterte die Halle wie unter schweren Schlägen, und einmal blieben sie alle stehen und blickten erschrocken auf, als ein hohes, wimmerndes Geräusch erscholl, das sich binnen Sekunden zu einem schrillen Jaulen steigerte und dann die Grenzen des Hörbaren überstieg, aber noch eine Weile in ihren Köpfen zu vibrieren schien.
Der Boden begann immer stärker anzusteigen, je weiter sie sich dem Ende der Halle näherten. Schließlich ging es nicht mehr weiter: Die Krümmung des Bodens war so stark geworden, daß das Gehen fast unmöglich war, und der Abstand zwischen ihm und der Decke schmolz zusehends.
Enttäuscht machten sie kehrt und gingen in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Zumindest glaubte Charity jetzt zu wissen, wo sie sich befanden. Bei einem Schiff hätte man diesen Teil der Konstruktion die Bilge genannt - die Decke über ihnen war waagerecht, und wahrscheinlich war es auch keine Decke, sondern der Boden der untersten Ebene dieser absurden Riesenmaschine. Worüber sie liefen, das war der gekrümmte Bauch des stählernen Riesentieres. Für einen Moment mußte sie sich gegen die bedrückende Vorstellung wehren, daß es keinen Ausgang aus dieser Falle gab und sie in diesem grauen Nebel herumirren konnten, bis sie vor Erschöpfung oder Kälte zusammenbrachen. Aber natürlich war das nur ein Streich, den ihr ihre überreizten Nerven spielten. Die Ameise, die Skudder getötet hatte, war der lebende Beweis, daß es einen Weg hinauf in den eigentlichen Läufer gab.
Sie brauchten fast eine halbe Stunde, ehe sie ihn fanden: ein ungleichmäßig geformtes Loch in der Decke, das wie hineingesprengt (oder gebissen?) aussah und zu dem eine weitere dieser bizarren Leiterkonstruktionen hinaufführte. Das gleiche blasse Licht wie hier unten herrschte auch dort oben, und die unheimlichen Laute und das Stampfen und Klopfen nahmen an Intensität zu.
Skudder signalisierte den drei Soldaten mit stummen Gesten, ein Stück zurückzubleiben, nahm das Gewehr von der Schulter und kletterte lautlos die Leiter hinauf. Charity wartete, bis er in der Öffnung verschwunden war, zählte in Gedanken bis fünf und folgte ihm dann.
Sie war erstaunt, wie dick der Hallenboden war. Der rostige Stahl umgab sie wie ein Schacht, fast anderthalb Meter dick, und er schien vollkommen massiv zu sein. Wenn dieses ganze Käfermonstrum so massiv gebaut war, dachte sie ungläubig, dann mußte es etliche Millionen Tonnen wiegen!
Sie sah Skudder einen halben Meter neben dem Schacht knien, das Gewehr im Anschlag und einen angespannten Ausdruck auf dem Gesicht. Aber auch hier oben war von der Besatzung dieser absurden Maschine nichts zu sehen.
Skudder signalisierte ihr, leise zu sein und den rückwärtigen Teil des Ganges im Auge zu behalten. Rasch entfernte sie sich ein paar Schritte von ihm, ließ sich, seinem Beispiel folgend, auf ein Knie herabsinken und nahm den Gamma-Laser von der Schulter. Ehe sie die Waffe entsicherte, stellte sie die Leistungsabgabe auf das Minimum zurück; der Gang war zwar lang, aber niedrig und sehr eng. Sie hatte wenig Lust, sich selbst und vielleicht auch alle anderen umzubringen, wenn sie auf ein Ziel feuerte, das weniger als fünfzig Meter entfernt war.
Sie konnte hören, wie die drei Soldaten hinter ihr aus dem Schacht geklettert kamen, widerstand aber der Versuchung, sich zu ihnen herumzudrehen. Gebannt blickte sie den Korridor entlang. Ihre Augen hatten sich an das blasse Licht gewöhnt, so daß sie nun etwas besser sehen konnte. Eine Anzahl von Türen - und was bizarr genug war: Jede einzelne von ihnen schien eine andere Form und Größe zu haben! - zweigte zu beiden Seiten ab, und am Ende des Ganges glaubte sie die ersten Stufen einer Treppe zu erkennen, war aber nicht völlig sicher. Hier und da brannte ein trübes, dunkelrotes Licht an der Decke, das das unheimliche Zwielicht aber nicht wirklich aufzuhellen vermochte.
»Hast du irgend etwas auf dem Scanner?« fragte Skudder.
»Jede Menge«, antwortete Charity nach einem raschen Blick auf das Gerät an ihrem Handgelenk. »Aber nichts, was Sinn ergibt.« Die Anzeigen des winzigen Instruments spielten ebenso verrückt wie die des Flugzeugs vorhin. Offensichtlich gab es in dieser riesigen Maschine etwas, das nachhaltig jegliche Art von Elektronik störte.
»Irgendeine Idee, was wir jetzt tun?« fuhr Skudder fort. Seine Stimme kehrte als gebrochenes Echo nach einer Sekunde zurück, und das war sehr sonderbar, denn das hatte sie bei seiner ersten Frage nicht getan, ebensowenig wie die Charitys bei ihrer Antwort. Alarmiert sah sich sich nach allen Seiten um, konnte aber nichts Auffälliges erkennen. Offensichtlich war die Akustik dieses Ganges ebenso bizarr und undurchschaubar wie die Architektur.