»Wir müssen hier raus!« stieß Faller plötzlich hervor. Und als hätten seine eigenen Worte den Bann gebrochen, begann er am ganzen Leib zu zittern. Charity tauschte einen alarmierenden Blick mit Skudder, der sie verstand und wie zufällig hinter den jungen Soldaten trat. In der Halle unten herrschte ein solcher Lärm, daß kaum die Gefahr bestand, daß jemand sie hörte. Aber es gehörte nicht einmal mehr sehr viel Menschenkenntnis dazu, um zu sehen, daß Faller am Ende seiner Kraft angelangt war. Noch ein paar Augenblicke, und er würde einfach zusammenbrechen und irgend etwas Verrücktes tun.
»Beruhigen Sie sich«, sagte Charity, aber ihre Worte bewirkten eher das Gegenteil - Faller begann noch stärker zu zittern, und seine Augen waren weit und dunkel vor Angst. An seinem Hals pochte eine Ader.
»Wir werden alle sterben«, stammelte er. »Wir ... kommen hier nie mehr raus! Es ist vorbei!«
»Nichts ist vorbei«, antwortet Charity, in nun schon etwas schärferem Tonfall. »Reißen Sie sich zusammen! Bisher haben sie uns nicht einmal bemerkt.«
»Ich ... ich will raus hier«, flüsterte Faller. Er schien ihre Worte gar nicht gehört zu haben. »Sie werden uns alle umbringen.«
Charity versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.
Faller taumelte zurück, hob die Hand an die brennende Wange und starrte sie aus Augen an, die weit und starr vor Panik waren. Er sagte nichts mehr, aber die Gefahr war keineswegs vorüber. Der Trick, einen hysterischen Anfall durch etwas so Simples wie eine Ohrfeige zu beenden, funktionierte wohl doch nur im Kino verläßlich, dachte Charity bedauernd. In der Wirklichkeit nur höchst selten.
Sie signalisierte Skudder mit einem Blick, weiter auf Faller zu achten, drehte sich herum und ging zur Tür zurück. Der Anblick hatte nichts von seiner unheimlichen Irrealität verloren.
Sie spürte, wie jemand neben sie trat und spannte sich leicht, aber es war nur Leßter, der, ebenso verblüfft und ungläubig wie sie, mit einer Art wissenschaftlichem Interesse in die Halle hinabblickte. »Das ist das Verrückteste, was ich jemals gesehen habe«, sagte er. »Und außerdem dürfte es überhaupt nicht funktionieren.«
Charity sah ihn fragend an.
Der junge Soldat deutete mit weit gespreizten Fingern auf die wandelnde Fabrikhalle hinab. »Verstehen Sie etwas von Physik?«
»Ich bin Astronautin«, antwortete sie, wobei sie sich selbst ein wenig über den leicht beleidigten Unterton wunderte, der sich dabei in ihre Stimme schlich.
»Ich nicht«, sagte Leßter achselzuckend. »Aber verrückte Ideen haben mich schon immer fasziniert. Und das hier ist eine verrückte Idee.«
»Wieso?«
»Weil es unmöglich ist.« Leßter zog eine Grimasse. »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich sehe es selbst. Aber das ändert nichts daran, daß es unmöglich ist. Es dürfte gar nicht existieren.« In halb spöttischem, zum Teil aber auch fast dozierend klingendem Tonfall fuhr er fort: »Falls die Naturgesetze auch für unsere Freunde von den Sternen gelten, heißt das. Dieser Koloß müßte unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen wie ein Walfisch auf dem Trockenen. Oder zumindest bis an die Schultergelenke in den Boden einsinken, wenn er auch nur einen Schritt macht.«
»Aber er tut es nicht.«
»Das ist es ja gerade, was ich nicht verstehe«, seufzte Leßter. »Glauben Sie, daß sie wissen, daß wir hier sind?«
Charity benötigte eine Sekunde, um dem plötzlichen Gedankensprung zu folgen. Zögernd schüttelte sie den Kopf. »Ich denke nicht. Unsere Begegnung unten war wahrscheinlich ein reiner Zufall.«
Leßters Blick glitt weiter durch die riesige Halle. Ein nachdenklicher Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. »Ich frage mich, ob dieses Ding so etwas wie eine Zentrale hat, von der aus es gelenkt wird.«
»Wahrscheinlich«, antwortete Charity. »Warum fragen Sie?«
»Weil wir sie dann erobern könnten«, antwortete Leßter ruhig.
»Sie sind verrückt!« murmelte Charity.
Leßter lachte. »Ich weiß. Das ist Bedingung, um diesen Job zu bekommen.«
Er lachte, und nach einer Sekunde stimmte Charity in sein Lachen ein, als ihr klar wurde, daß Leßter mit haargenau den gleichen Worten antwortete, die sie selbst benutzt hatte, als sie mit dem anderen Soldaten sprach.
»Ich meine es ernst«, fuhr Leßter fort. »Wir können nicht hierbleiben und abwarten, was passiert. Früher oder später werden sie uns entdecken - oder wir erfrieren.«
Leßter runzelte die Stirn. Er schien etwas entdeckt zu haben, denn er blickte einige Sekunden lang konzentriert auf einen Punkt auf der anderen Seite der Halle, dann hob er den Arm und deutete auf eine zerschrammte silberfarbene Halbkugel, die unter die Decke des Läufers geklebt war und an einer Seite mit der Wand verschmolz. Eine Anzahl ungleichmäßig verteilter, stecknadelkopfgroßer weißer Punkte übersäte die Kuppel; Fenster, durch die Licht aus ihrem Inneren drang. »Das da könnte passen«, sagte Leßter nachdenklich. »Wenn ich dieses Ding gebaut hätte, würde ich die Kommandoeinheit genau dorthin setzen.«
Seine Worte erschienen Charity logisch - und absurderweise war es genau dieser Umstand, der sie einen Moment zögern ließ. Nichts, aber auch absolut gar nichts hier war logisch. Nach allem, was sie bisher gesehen hatte, hätte es sie nicht einmal mehr überrascht, hätte sie herausgefunden, daß sich die Kommandozentrale dieses stählernen Ungetüms auf einem Hundeschlitten befand, der dem Läufer in fünf Meilen Entfernung folgte.
»Selbst wenn Sie recht haben«, sagte sie zögernd, »wie kommen wir dorthin? Ich glaube nicht, daß wir einfach durch die Halle marschieren und darauf hoffen können, daß sie zu beschäftigt sind, um uns zu bemerken.«
Leßter zuckte nur mit den Schultern. »Sind Sie hier der Kommandant, oder ich?« fragte er grinsend.
Charity warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, aber dann entdeckte sie das spöttische Glitzern in seinen Augen und mußte gegen ihren Willen in sein Lächeln einstimmen. Sie hob ihr Gewehr, schaltete den Zielcomputer ein und richtete ihn auf die Kuppel unter der Decke. Aber auch durch die vergrößerte Optik betrachtet blieb dieser stählerne Auswuchs dort oben, was er war - eine zerschrammte Beule mit einem Dutzend wie hineingefressen wirkender Löcher, hinter denen blasses gelbes Licht schimmerte und sich Schatten bewegten. Nach ein paar Sekunden senkte sie die Waffe wieder und ging enttäuscht zu Skudder und den beiden anderen zurück.
Phillipsen hatte sich inzwischen wieder beruhigt, aber er wirkte noch immer blaß, seine Bewegungen und Blicke waren fahrig.
»Also?« begrüßte sie Skudder. »Habt ihr herausgefunden, was das hier ist?«
»Nein«, antwortete Charity. Und nach einem kurzen Zögern und einem Blick in Leßters Richtung fügte sie in fast beiläufigem Ton hinzu: »Aber ich weiß jetzt, was wir tun werden. Was immer es ist - wir werden es erobern.«
6
Lüge! Es war alles Lüge!
French hatte im Verlauf der letzten halben Stunde fünf Spinnen getötet, ohne daß die anderen auch nur Notiz von ihm genommen hatten.
Er hatte in dieser Zeit an die tausend Atemzüge getan, ohne daß die Luft seine Lungen verätzte und sein Blut zum Kochen brachte.
Er war in dieser Zeit tiefer in die Spinnenwelt vorgedrungen als jemals ein Mensch vor ihm, und er hatte nichts von all den tödlichen Fallen und Hinterhalten bemerkt, die es doch angeblich hier gab.
Er war mindestens eine Meile weit gelaufen, jeder Schritt eine Qual, die er nur unter Schmerzen bewerkstelligen konnte und das letzte bißchen Kraft von ihm verlangte, aber die Gewichtskrankheit hatte ihn nicht umgebracht, und er begann sich im Gegenteil jetzt wieder etwas besser zu fühlen.