Es war alles gelogen.
Diese Welt war bizarr und gefährlich, und sie schien nach Regeln zu funktionieren, die er weder verstehen konnte noch wollte. Er zweifelte nicht daran, daß sie ihn fast beiläufig töten konnte bei der geringsten Unachtsamkeit. Sie war gefährlich und mörderisch, aber das war der Hort auf seine Weise auch. Sie war von Wesen bevölkert, die zum Teil so furchteinflößend aussahen, daß ihr bloßer Anblick ihn fast in den Wahnsinn trieb.
Aber sie konnten hier leben.
Es gab kein tödliches Luftgemisch. Es gab keine Schwere Zone, in der er mit jedem Schritt mehr an Gewicht zunahm, bis er unter der Last seines eigenen Körpers zusammenbrach und erstickte. Sie hatten ihn belogen. Ihn, die anderen, und die, die vor ihnen im Hort gelebt hatten.
French fühlte sich wie betäubt. Er hätte Zorn empfinden sollen, aber alles, was er wirklich spürte, war ein tiefes, lähmendes Ersetzen angesichts der Ungeheuerlichkeit dieser Lüge.
Er hatte sich so weit wieder erholt, daß er in der Lage war, weiterzugehen. Seine Umgebung hatte sich mit jedem Schritt verändert, den er tiefer in das Spinnennest eingedrungen war. Und es war eine unheimliche, angstmachende Veränderung, die weiter anhielt, als entfernte er sich mit jedem Schritt, den er tat, ein kleines Stück von der normalen, menschlichen Welt und bewegte sich tiefer in ein Universum hinein, dessen Grundpfeiler nicht Materie und Energie, sondern Furcht und Entsetzen waren.
Er war auf sehr wenige Spinnen gestoßen. Einige von ihnen hatte er getötet, mit der gleichen überraschenden Mühelosigkeit, mit der er das erste Insektenmonster überrumpelt hatte, aber den meisten war er ausgewichen, denn die angeblich tödliche Luft der Spinnenwelt war in Wirklichkeit viel dichter als die Atmosphäre des Hortes, und Geräusche trugen hier viel weiter, so daß er ihre Schritte meist lange hörte, ehe er sie sah.
Trotzdem wußte er, daß er bisher sehr viel Glück gehabt hatte. Er hatte nur wenige Spinnen gesehen. Wohl aber ihre Spuren. Und diese so oft und in solcher Menge, daß ihm allein bei dem Gedanken schwindelte, daß es Hunderte waren. Aber Tausende oder gar Zehntausende kam der Wahrheit wohl schon etwas näher. Die Schwere Zone war viel größer, als er geglaubt hatte. Natürlich war es beinahe unmöglich, unter diesen Bedingungen die Entfernung abzuschätzen, die er gegangen war - und schon gar nicht die Richtung, in der er sich bewegte. Aber es mußte eine Meile gewesen sein, wenn nicht mehr. Und es war noch kein Ende dieser bizarren Welt aus Stahl und Spinnengewebe abzusehen. Vor einer Weile war er durch einen Raum gekommen, der für sich allein größer als der ganze Hort sein mußte, und leer bis auf ein ungeheuerliches Gewebe aus klebrigen, grauschwarzen Fäden, das eine zweite Ebene auf halber Höhe des Raumes schuf, so dicht, daß man wahrscheinlich darauf gehen konnte, mit einem mißgestalteten, pulsierenden Herzen. French war nicht lange genug dortgeblieben, um herauszufinden, worum es sich bei dem unheimlichen Gebilde handelte, aber eigentlich wollte er das auch gar nicht wissen.
Wenn er ganz ehrlich war, dann wußte er gar nicht, was er eigentlich noch wollte. Was er hier tat. Im ersten Moment, als ihn die Erkenntnis mit ganzer Wucht getroffen hatte, da war er so zornig gewesen, daß er am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht hätte und zu seinen Brüdern zurückgeeilt wäre, um ihnen die Wahrheit ins Gesicht zu schreien. Später dann, als der lähmende Schock wich, da hatte er beschlossen, gar nicht mehr zurückzukehren. Die Wahrscheinlichkeit, daß dies so oder so geschah, war ohnehin hoch - aber er hatte sich entschlossen, hierzubleiben und zu sterben. Er wußte, daß er in der Enge des Hortes nicht mehr würde leben können. Nicht mehr, nachdem er das hier gesehen hatte. Nachdem er begriffen hatte, daß es mehr gab als die fünfzig mal zwanzig Schritte messende Welt, in der er geboren war und die er sich mit einem Dutzend Männern und Frauen und zwei Kindern teilte.
Die Schwere Zone war schrecklich, mörderisch und furchteinflößend, aber sie war vor allem eines: groß. Unvorstellbar groß. Vielleicht so groß wie die Erde, vielleicht größer. Und es schien ganze Korridorfluchten und Etagen zu geben, die völlig verlassen waren. Obwohl hier, in dem Teil, in dem er sich jetzt befand, die Spuren der Spinnen unübersehbar waren, war er durch Räume gekommen, die seit einem Menschenleben oder länger völlig verlassen sein mußten. Eine dicke Staubschicht hatte auf dem Boden gelegen, und die Luft hatte so bitter geschmeckt wie die im Hort, wenn die Luftpatronen aufgebraucht waren.
Sie würden hier leben können. Sie würden wahrscheinlich sogar hier leben können, ohne von den Spinnen auch nur bemerkt zu werden, denn das war die zweite große Lüge: Die Spinnen interessierten sich nicht einmal für sie. French hatte zwei der riesigen häßlichen Wesen einzig und allein aus dem Grund nicht getötet, daß sie einfach an ihm vorbeigegangen waren, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Und das konnte nicht an seiner Verkleidung liegen, denn die war so plump, daß nicht einmal ein zweijähriges Kind darauf hereingefallen wäre.
Er durchquerte einen weiteren Raum, stieg mit vorsichtigen, unendlich mühsamen kleinen Schritten und mit nach vorne gebeugten Schultern wie ein uralter Mann eine weitere Treppe hinab und fand sich unversehens in einer winzigen leeren Kammer wieder, von der drei Türen abzweigten. Zwei davon waren verschlossen und vor einer spannte sich zudem ein Netz aus dünnen, grauen Fäden. Die dritte stand einladend offen.
French schob einen weiteren Pfeil in seine Harpunenwaffe; blieb einen Moment stehen, um zu lauschen, und trat dann mit klopfendem Herzen durch die Tür.
Im ersten Moment war der Anblick so überraschend, daß er einfach mitten in der Bewegung erstarrte und sogar das Atmen vergaß. Der Raum war gewaltig, und außer ihm hielten sich ein gutes Dutzend Spinnen darin auf, allesamt Kreaturen der großen, sechsgliedrigen Art, die bisher als besonders gefährlich gegolten hatten. Aber keines dieser Wesen nahm auch nur Notiz von ihm. Und hätten sie es getan, so hätte French nicht darauf reagiert, denn was er sah, das lahmte ihn vollkommen.
Der Raum hatte die Form eines langgezogenen Dreiviertelkreises, und seine gegenüberliegende Wand war nicht da. Wo sie hätte sein sollen, erstreckte sich das gesamte Blauschwarz der Toten Zone, und inmitten dieser mit winzigen Lichtpunkten gesprenkelten Unendlichkeit schwebte eine riesige blaue Kugel mit weißen und braunen und grünen Farbtupfern.
Die Erde.
French hatte sie niemals wirklich gesehen, so wenig wie irgendein anderer Bewohner des Hortes, mit Ausnahme vielleicht des Alten, aber nicht einmal dessen war er jetzt sicher. Aber er wußte, daß sie es war. Sie mußte es sein. Und vielleicht hatte er sich doch getäuscht und war schon tot, und was er erlebte, das waren nur die Visionen, die den Rückweg zur Erde begleiteten.
Aber daß es die Erde war, das wußte er.
Er hatte niemals etwas Schöneres gesehen. Der Planet schwebte zum Greifen nahe vor ihm, scheinbar nur noch wenige Sprünge entfernt, und French konnte sich nicht an seiner Schönheit sattsehen, an dem milden Glanz, den er ausstrahlte, den perfekten Proportionen, dem natürlichen Harmonieren von Meeren und Kontinenten, seiner Größe.
French wußte, daß der Eindruck täuschte - die Erde schien zum Greifen nahe, aber sie mußte noch Meilen entfernt sein, so groß wie sie war. Aber er war ihr nahe. Er sah sie. Das allein zählte. Zumindest in diesem Punkt hatte der Alte die Wahrheit gesagt - es gab eine Erde, einen Ort, zu dem sie eines Tages gehen und die Belohnung für die Mühen ihres Lebens erhalten konnten.
Der Gedanke erschien ihm seltsam tröstlich. Obwohl er seit dem Moment, in dem er den Hort verlassen hatte, praktisch ununterbrochen auf der Flucht und in Lebensgefahr gewesen war, fühlte er sich mit einem Mal von einem tiefen inneren Frieden erfüllt, wie er ihn selten zuvor gespürt hatte. Es war der Anblick dieses Planeten, das Wissen, das den Glauben ersetzt hatte, daß es ein Leben nach dem Tode gab und eine Belohnung für alle erlittenen Mühen und Qualen.