Er ging weiter, ohne dem Dutzend Spinnen, das in der Halle herumlief und Dinge tat, die er nicht verstand, mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken, und näherte sich mit gemessenen Schritten der offenen Seite der Wand, um das letzte Stück seines Weges zur Erde hinter sich zu bringen. Er empfand ein ganz leises Bedauern bei dem Gedanken, daß er nun nicht mehr zurückkehren und den anderen die Wahrheit sagen konnte, aber plötzlich erschien ihm alles, was sie erlebt hatten und noch erleben würden, so klein und nichtig. Welchen Unterschied machte es, ob man ein paar Jahre mehr oder weniger litt, wenn danach die Ewigkeit wartete?
Aber zwischen French und der Ewigkeit befand sich dann doch noch ein Hindernis. Es war unsichtbar, aber so massiv, daß er dagegenprallte und zurücktaumelte, als wäre er gegen eine Wand aus Stahl gelaufen. Bunte Sterne und Kreise tanzten vor seinen Augen, und für einen Moment drohten ihn die Sinne zu verlassen. Er wankte, verlor beinahe das Gleichgewicht und fing sich im letzten Moment wieder.
Eine der Spinnen sah desinteressiert von ihrer Arbeit auf und musterte ihn einen Moment lang aus ihren kalten, glitzernden Facettenaugen, wandte sich dann aber wieder ihrer Arbeit zu, während French dastand und verzweifelt versuchte, auf den Füßen zu bleiben.
Der Schmerz in seinem Kopf wurde immer schlimmer. Sein eigener Körper, der hier mindestens zehnmal soviel wog wie im Hort, schien ihn zu Boden zerren zu wollen, und er wußte, daß er nicht mehr die Kraft haben würde, wieder aufzustehen. Aber der hämmernde Schmerz zwischen seinen Schläfen bewirkte auch gleichzeitig noch etwas: Je schlimmer er wurde, desto mehr schien sich Frenchs Denken auf einer Ebene zu klären, die während der letzten Minuten einfach abgeschaltet gewesen war. Er wußte noch immer, daß es tatsächlich die Erde war, die er sah, aber er sah sie jetzt nicht mehr mit den Augen eines Gläubigen, der das Paradies erblickte, sondern mit denen eines Mannes, der begriffen hatte.
Die unsichtbare Wand zwischen ihm und der Erde war natürlich nichts anderes als ein Fenster, wie es sie auch im Hort gab, dort nur sehr viel kleiner und aus einem Glas, das nicht ganz so unsichtbar war wie dieses hier. Voller plötzlichem Schrecken begriff er, daß er in den letzten Minuten nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen war. Und mit noch größerem Schrecken begriff er in der gleichen Sekunde, daß er noch immer in Gefahr schwebte.
Hastig drehte er sich herum, wobei die beiden Zusatzarme an seinem Anzug ziellose Schlenkerbewegungen ausführten, und diesmal nahmen die Spinnen Notiz von ihm. Drei oder vier ließen ihre Arbeit sinken und starrten ihn an, und eine wandte sich gar vollends zu ihm und machte einen Schritt in seine Richtung, blieb aber ebenfalls wieder stehen, als French vor Schrecken mitten in der Bewegung erstarrte und die Arme sinken ließ.
Frenchs Gedanken überschlugen sich. Seine Hand schloß sich fester um den Lauf der Harpunenwaffe, aber er unterdrückte den Impuls, sie abzufeuern. Für eine einzige, aber endlos scheinende Sekunde bohrten sich die Blicke der riesigen kalten Insektenaugen in die aus Glas gefertigten Augenattrappen seines Anzugs, und obwohl er wußte, daß es nicht so sein konnte, war er für die gleiche fürchterliche Zeitspanne felsenfest davon überzeugt, daß dieses Wesen direkt durch seine Tarnung hindurchblicken konnte. Aber dann wandte es sich mit einer ruckartigen Bewegung wieder um, als hätte es plötzlich das Interesse an ihm verloren, ja, als nähme es ihn gar nicht mehr wahr, und stakste mit eckigen, aber sehr schnellen Schritten an seine Arbeit zurück.
French atmete erleichtert auf. Er zitterte am ganzen Leib, und als er vorsichtig den Kopf drehte und sich umsah und sein Blick dabei den blauweiß gesprenkelten Ball der Erde hinter dem Fenster streifte, da hatte das Bild nichts mehr von einem verlockenden Paradies, sondern wirkte nur noch fremdartig und sonderbar unheimlich. Er ahnte, wie knapp er dem Tod diesmal entronnen war, und dieses Erlebnis hatte etwas Ernüchterndes, denn er wollte immer noch nicht sterben, obgleich er jetzt wußte, daß das versprochene Paradies tatsächlich existierte. Tatsächlich schien es, als hinge er jetzt noch mehr am Leben als zuvor. Langsam und darum bemüht, die eckigen, stolzierenden Bewegungen der Spinnen nachzuahmen, ging French wieder zurück zum Eingang und blieb erst wieder stehen, als er die Tür hinter sich hatte. Er versuchte erst gar nicht zu begreifen, warum er noch am Leben war.
Trotzdem blieb er noch einmal einige Sekunden stehen und sah den blauen Planeten jenseits des unsichtbaren Glases an. Plötzlich füllten sich seine Augen mit Tränen. Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, daß er weinte. Aber es war das erste Mal, daß er sich nicht dafür schämte.
7
»Das ist völlig unmöglich!« sagte Stone. Und obwohl Charitys logisches Denken ihr sehr deutlich sagte, daß es nicht sein konnte, glaubte sie einen nervösen Unterton in seiner Stimme zu vernehmen und ein leichtes, fast ängstliches Flackern in seinen Augen zu sehen. Aber konnte eine Computersimulation Angst haben?
»Wenn Sie noch eine Weile am Leben bleiben wollen«, fuhr Stones Gesicht auf dem winzigen Monitor fort, »dann vergessen Sie diesen hirnrissigen Plan und verschwinden aus dem Läufer, so schnell Sie nur können.«
»Wir würden draußen erfrieren«, antwortete Charity, aber Stone schüttelte heftig den Kopf und schnitt ihr das Wort ab:
»Ihre Anzüge schützen Sie eine Weile; vor allem, wenn Sie in Bewegung bleiben. Die Läufer dringen nie sehr weit in die Sperrzone ein. Und draußen sind Sie auf jeden Fall sicherer als hier drinnen. Glauben Sie mir - daß Sie noch nicht entdeckt worden sind, ist ein pures Wunder.«
Charity antwortete nicht sofort, sondern senkte das Gerät und schaltete es nach einem kurzen Zögern ganz aus, damit das darin gespeicherte alter ego Daniel Stones nicht hörte, was sie den anderen zu sagen hatte. Ganz sicher war sie allerdings nicht, daß es dies nicht trotzdem tat. Sie war vom ersten Moment an nicht sicher gewesen, ob sie diesen Apparat überhaupt ausschalten konnte. So wenig, wie sie wirklich sicher war, daß es nur ein Computer war.
»Dein Freund kommt mir ein bißchen nervös vor«, sagte Skudder, der hinter ihr gestanden und ihre Unterhaltung mit dem Apparat verfolgt hatte. »Ich frage mich, warum.«
»Es ist nicht unbedingt in seinem Interesse, wenn wir umgebracht werden - oder gefangengenommen«, antwortete Charity. Die Antwort vermochte nicht einmal sie selbst zu überzeugen.
Skudder nickte grimmig. »Ich beginne mich immer ernsthafter zu fragen, was überhaupt in seinem Interesse ist.«
»Sie sollten auf ihn hören«, sagte Phillipsen nervös. »Bis jetzt hat er uns noch nicht belegen.«
»Bis jetzt«, verbesserte ihn Leßter ruhig, »ist uns noch keine Lüge aufgefallen.«
Phillipsen wollte widersprechen, aber Charity beendete das Gespräch mit einer unwilligen Geste und schaltete den Minicomputer wieder ein. Als sich Stones Gesicht auf dem briefmarkengroßen Bildschirm wieder stabilisierte, glaubte sie einen vorwurfsvollen Ausdruck darauf zu erkennen.
»Es ist sehr unhöflich, seinen Gesprächspartner einfach abzuschalten«, sagte er.
»Es ist auch nicht höflich, wenn man versucht, ihn umzubringen«, antwortete Charity.
»Das war ich nicht«, sagte Stone gelassen. »Sie vergessen immer wieder, daß Sie nur mit einem Computer reden, Captain Laird.«
»Vielleicht sollte ich dich aufschrauben und nachsehen, ob das auch wirklich stimmt«, antwortete Charity. Abrupt kam sie wieder zum Thema zurück. »Wir haben über Ihren Vorschlag abgestimmt, Stone«, sagte sie. »Es tut mir leid, aber ich fürchte, es bleibt dabei. Wir werden versuchen, dieses Ding zu kapern.«