Stone wollte auffahren, aber Charity hob drohend den Daumen und senkte ihn dann auf den Knopf, der das Gerät deaktivierte, und Stone schluckte seine Antwort herunter.
»Also, Stone«, fuhr Charity fort. »Sie können uns helfen - oder ich schalte dieses verdammte Ding ab, und Sie lassen sich überraschen, was passiert. Ich muß allerdings zugeben, daß unsere Aussichten, es ganz allein zu schaffen, nicht besonders hoch sind. Und wenn man uns gefangennimmt und dieses Gerät bei uns findet...«
»Das ist Erpressung«, sagte Stone.
Charity nickte. »Ja.«
Stone schwieg einen Moment, als müsse er überlegen. Dann nickte er zögernd, wenn auch mit sichtlichem Widerwillen. »Also gut. Ich liefere Ihnen einen Aufriß des Läufers. Allerdings kenne ich nur die prinzipielle Konstruktion. Jede Maschine ist anders. Es kann also durchaus sein, daß der Plan nicht ganz stimmt.«
»Dieses Risiko nehmen wir in Kauf«, sagte Charity lakonisch.
»Genau diese Antwort habe ich befürchtet«, sagte Stone. »Und - noch etwas, nur der Ordnung halber. Ich beuge mich nicht Ihrer Erpressung, Captain Laird. Im Fall, daß Sie getötet oder gefangengenommen werden, wird sich dieses Gerät selbst vernichten, und es wird nicht die mindeste Spur zurückbleiben, mein Wort darauf.«
Charity ersparte sich eine Antwort darauf. Es erschien ihr wenig sinnvoll, mit einer Maschine zu streiten. Statt dessen wartete sie, bis die versprochene Konstruktionszeichnung des Läufers auf dem Bildschirm erschien und hielt das Gerät am ausgestreckten Arm so weit von sich weg, daß sie alle den winzig kleinen Bauplan sehen konnten. Es war tatsächlich nur eine grobe Skizze, aber immerhin sah Charity, daß Leßters Vermutung richtig gewesen war - die Steuereinheit des Maschinenkolosses befand sich tatsächlich in jener silbernen Halbkugel auf der anderen Seite der Fabrikhalle.
»Wie kommen wir dorthin, ohne gesehen zu werden?«
Auf dem Bildschirm erschien wieder Stones Gesicht. »Es müßte einen Laufsteg geben, der unter der Decke der Halle entlangführt.«
Charity machte eine Geste zu Leßter. »Bitte sehen Sie nach.«
Der junge Soldat ging, und Charity wandte sich wieder an Stone. »Wie wird dieses Ding gesteuert?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Stone, und sie hörte am Ton seiner Stimme, daß es die Wahrheit war.
»Aber selbst wenn es Ihnen gelingen würde, ihn zu kapern, wäre das völlig sinnlos«, fuhr er fort. »Sie glauben doch nicht, daß Sie mit dem Läufer unbemerkt auch nur in die Nähe der Stadt kämen?«
»Wer sagt, daß wir das wollen?« erwiderte Charity. »Vielleicht genügt es uns ja, ein bißchen Aufregung zu stiften.«
Sie schenkte sich selbst eine Sekunde, in der sie sich an dem verblüfften Gesicht Daniel Stones weidete, dann schaltete sie das Gerät ab und steckte es mit einer raschen Bewegung in die Tasche.
Als sie den Reißverschluß zuzog, kehrte Leßter zurück.
»Der Steg ist da«, antwortete er, als sie ihn fragend ansah. »Genau wie Stone gesagt hat. Er führt unter der Decke entlang.«
»Bis zur Kuppel?«
Leßter zuckte mit den Schultern. »Das konnte ich nicht erkennen. Die Halle ist voller Dampf und Rauch. Aber das wird uns auch schützen. Wenn Sie nicht direkt nach uns suchen, werden sie uns kaum sehen.«
Charity hoffte inständig, daß Leßter recht hatte und die Ameisen nicht zum Beispiel sehr viel besser sahen, als sie annahmen.
Vorsichtig und einer nach dem anderen traten sie wieder in die große Halle hinaus. Die Tatsache, daß fast jeder Fußbreit Boden und jeder nur irgendwie erreichbare Quadratmeter der Wände mit Maschinen und Apparaturen übersät war, erwies sich nun als sehr nützlich, denn sie mußten nur wenige Schritte deckungsloses Gelände überwinden, ehe sie sich wieder hinter eine der zyklopischen Apparaturen ducken konnten.
Charity blickte angestrengt nach oben und glaubte nach einigen Augenblicken tatsächlich ein dünnes, geländerloses Silberband hoch über sich zu erkennen. Bei dem bloßen Gedanken, darüber laufen zu sollen, schwindelte ihr schon.
»Und wie kommen wir hinauf?« fragte Skudder.
»Das ist kein Problem«, antwortete Leßter. Er hob den Arm und deutete auf einen Punkt ein Stück rechts von ihnen, vielleicht zwanzig Schritte entfernt. »Es gibt eine Leiter, sehen Sie?«
Skudders Augen wurden groß, und auch Charity zuckte unmerklich zusammen, als sie sah, was Leßter in einem Anfall von Größenwahn als Leiter bezeichnet hatte. Es waren die gleichen falsch angeordneten Sprossen wie die, die sie schon einmal in die Höhe gestiegen waren, aber diese Leiter führte gute hundertfünfzig Meter weit an der Wand hinauf, und sie führte nicht durch einen engen Schacht, an dessen Wänden sie immer wieder Halt finden und sich einen Moment ausruhen konnten.
»Du willst doch nicht im Ernst da hinauf?« keuchte Faller.
»Eigentlich nicht«, antwortete Leßter. »Wenn jemand eine bessere Idee hat...?«
Aber die hatte niemand.
8
Stone zog die Tür hinter sich zu, wartete, bis die Dienerkreatur die elektronische Sperre aktiviert hatte, und überzeugte sich danach noch einmal und pedantisch davon, daß der winzige Apparat auch wirklich funktionierte. Es war völlig überflüssig. Die Geräte funktionierten immer, und selbst wenn das Unmögliche geschehen und der Computer ausgefallen wäre, so gab es noch immer die beiden bewaffneten Posten hier draußen auf dem Gang.
Trotzdem. Er war nervös. Dieser Zwerg mit dem mißgestalteten Körper und den beunruhigenden Augen machte ihm angst. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, ihn mitzubringen. Er hätte ihn töten sollen. Er hatte das Gefühl, daß ihm Gurks Hiersein noch eine Menge Probleme bereiten würde.
Aber den Zwerg mitzubringen, war nicht der erste Fehler, den er begangen hatte. Wenn er es recht bedachte, dann waren die letzten Wochen und Monate eigentlich eine fast ununterbrochene Kette von Fehlern gewesen. Irgend etwas geschah mit ihm. Etwas, das er nicht verstand, das ihn aber beunruhigte. Seine Position unter den Moroni und die Macht, die sie ihm bescherte, beruhte einzig und allein auf einer Fähigkeit, die Daniel Stone nicht allein für sich gepachtet hatte: der Fähigkeit, sein Gewissen auszuschalten und vielleicht nicht so schnell, aber so logisch wie ein Computer zu denken - und vor allem zu entscheiden.
Nichts von dem, was er Charity während ihres Gespräches im Shai-Taan erzählte hatte, war gelogen gewesen. Er glaubte daran, daß es die einzige Chance der Menschheit war, sich den Invasoren zu unterwerfen. Alles, was sie bei einem Kampf gegen die Insektenkrieger von Moron gewinnen konnten, war ein schneller Tod. Für diese ganze Welt.
Die Aufzugtüren auf der anderen Seite des Stollens öffneten sich, und Stone registrierte ein weißes Aufblitzen aus den Augenwinkeln, das ihn sofort in die Wirklichkeit zurückriß. Abrupt drehte er sich herum, und mit der gleichen Plötzlichkeit, mit der sich seine Gedanken wieder von Gurk und den Rebellen gelöst hatten, kehrte die Furcht zurück. Es war noch nicht einmal lange her, da hatte er geglaubt, mit den Herren der Schwarzen Festung Wesen kennengelernt zu haben, wie sie schlimmer nicht sein konnten. Aber das war gewesen, bevor er die Inspektoren getroffen hatte.
Stone hatte Mühe, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken, während sich die zwei Meter große, weiße Albino-Ameise auf ihn zubewegte. Ihre ausdruckslosen Facettenaugen musterten ihn kalt, und Stone versuchte vergeblich, sich einzureden, daß diese Wesen keinerlei Mimik besaßen und somit auch nicht in der Lage waren, die eines anderen Geschöpfes zu deuten.