Die Schritte der Moroni näherten sich der Tür, gingen an ihr vorbei und begannen wieder leiser zu werden. Als sie schließlich verklungen waren, schob sich Leßter vorsichtig an Charity vorbei, lugte in den Gang hinaus und trat dann mit einem erleichterten Aufatmen wieder von der Treppe herunter. »Ihr könnt kommen«, sagte er. »Sie sind fort.«
Charity folgte ihm. Der Gang war wieder so verlassen wie vorhin, und Leßter stand hoch aufgerichtet da und blickte in die Richtung, in die die Moroni verschwunden waren.
Als er sich herumdrehte, schlug Charity warnungslos und so hart die Faust unter das Kinn, daß er gegen die gegenüberliegende Wand taumelte und daran zu Boden sank.
Einem Moment lang blieb er benommen hocken, dann versuchte er, sich unsicher aufzurichten, und streckte die Hand aus.
Charity trat ihm entgegen, ergriff seine ausgestreckte Hand, zog ihn halb in die Höhe und verdrehte seinen Arm dann mit einem so plötzlichen Ruck auf den Rücken, daß er nicht die Spur einer Chance hatte, sich zu wehren. Gleichzeitig schlang sie den anderen Arm von hinten um seinen Hals und bog seinen Kopf zurück. »Skudder!« sagte sie. »Nimm seine Waffen!«
»Was soll das?« stöhnte Leßter. Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. »Was tun Sie da?«
Charity bog seinen Kopf noch ein wenig weiter zurück, so daß Leßter sich das bißchen Luft, das er noch bekam, lieber dafür aufhob zu atmen, während Skudder ihn blitzschnell entwaffnete und dann wieder einen Schritt zurücktrat. Sein Gesicht war wie aus Stein, aber Charity sah den Ausdruck in seinen Augen und spürte, daß in dem Hopi dasselbe vorgehen mußte wie in ihr. Sie mußte sich beherrschen, um Leßter nicht auf der Stelle umzubringen. Und vielleicht war der einzige Grund, aus dem sie es nicht tat, der, daß sie einfach nicht verstand, warum er das getan hatte.
Sie ließ Leßter los und versetzte ihm gleichzeitig einen Stoß, der ihn abermals schwer gegen die Wand prallen ließ. Im letzten Moment fing er seinen Sturz ab und drehte sich schwerfällig herum.
Charity zog die Strahlenpistole und richtete sie drohend auf Leßters Brust. »Eine falsche Bewegung«, sagte sie leise, »und ich werde Sie mit größtem Vergnügen erschießen, Leßter.«
Der Soldat starrte sie mit einem Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit an. »Was ... was tun Sie da?« stammelte er. »Was soll das?« Langsam hob er den Arm, fuhr sich mit dem Handrücken über seine aufgeplatzte Unterlippe und blickte fast vorwurfsvoll auf das Blut auf seiner Hand herab. »Sie haben mich geschlagen.«
»Warum haben Sie das getan?« flüsterte Charity. Plötzlich bebte ihre Stimme. Die Waffe in ihrer Hand zitterte so heftig, daß sie die zweite Hand zu Hilfe nehmen mußte, um sie ruhigzuhalten, und wieder spürte sie für eine Sekunde jenen schrecklichen, kaum noch zu unterdrückenden Impuls, einfach abzudrücken. »Warum haben Sie das getan?« fragte sie noch einmal. »Warum haben Sie ihn umgebracht?«
Leßter sah sie mit einem Ausdruck an, als begriffe er den Sinn dieser Frage überhaupt nicht. Dann sagte er: »Er war eine Gefahr für uns. Er hätte uns alle verraten.«
»Du verdammter Mistkerl!« sagte Faller gepreßt. »Dafür bringe ich dich um! Ich schwöre dir, daß du hier nicht lebend rauskommst!«
Der Ausdruck von Verblüffung auf Leßters Gesicht wurde immer tiefer. »Aber ich mußte es tun!« sagte er. »Es gab keine andere Möglichkeit. Er hätte uns verraten.«
»Er war Ihr Kamerad, Leßter«, sagte Charity leise.
»Er ist zu einer Gefahr für uns geworden«, erwiderte Leßter abermals.
Charity hatte das Gefühl, daß etwas in ihr zu Eis erstarrte. Was sie am meisten entsetzte, war vielleicht die Tatsache, daß Leßter diese Worte ganz genau so meinte, wie er sie aussprach. Es war keine Ausrede.
»Erschießen Sie ihn!« sagte Faller. »Bringen Sie ihn um ... oder ich tue es!«
»Vielleicht sollte ich das wirklich tun«, murmelte Charity. »Und vielleicht werde ich es sogar tun. Später.«
Sie gab Leßter einen befehlenden Wink mit der Waffe. »Drehen Sie sich herum. Und nehmen Sie die Hände auf den Rücken.«
Leßter blickte sie nur eine Sekunde lang verwirrt an, aber dann gehorchte er, und ohne ein weiteres Wort trat Skudder hinter ihn und band seine Hände so fest zusammen, daß sich Leßters Gesicht für einen Moment vor Schmerz verzerrte. »Warum tun Sie das?« fragte er verwirrt. »Ich...«
Skudder schlug ihm mit dem Handrücken über den Mund, und Leßter taumelte erneut gegen die Wand und brach mit einem schmerzhaften Keuchen ab.
»Wir müssen weiter«, sagte Charity. »Skudder ... du paßt auf ihn auf. Wenn er zu fliehen versucht, erschieße ihn.«
»Sie wollen diesen Kerl doch nicht mitnehmen!« fuhr Faller auf.
»Wir können ihn nicht hierlassen«, antwortete Charity. »Und wir können auch selbst nicht hierbleiben.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür. »Wahrscheinlich haben sie die Leiche schon gefunden, falls sie ihnen nicht genau auf die Köpfe gefallen ist. In ein paar Minuten wird es hier von bewaffneten Ameisen nur so wimmeln.«
Faller wollte abermals auffahren, aber Charity brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Verstummen und ging dann ohne ein weiteres Wort los.
Sie waren der Kommandozentrale des Läufers näher, als sie zu hoffen gewagt hatte. Schon wenige Schritte hinter der Gangbiegung stießen sie auf eine massive Tür aus dem gleichen matt silbernen Metall, aus dem auch die Halbkugel drinnen in der Halle gefertigt war. Sie war nicht einmal verschlossen, sondern stand eine gute Handbreit offen, so daß sich Charity vorsichtig nähern und einen Blick in den dahinterliegenden Raum werfen konnte.
Es war die Zentrale. Der Raum hatte die Form einer im oberen Drittel abgeflachten Halbkugel, und der kleine Ausschnitt, den Charity davon erkennen konnte, ähnelte eher der Brücke eines altertümlichen Schlachtschiffes als der Kommandozentrale einer so bizarren Maschine wie dieser.
Charity beobachtete die Ameisen, die hinter fremdartig geformten Instrumentenpulten saßen oder aufrecht vor den Kontrollapparaten an der Wand standen und sie mit ihren vier Armen bedienten, einige Sekunden lang aufmerksam, dann schlich sie zu den anderen zurück. »Es sieht so aus, als hätten sie Phillipsen noch nicht gefunden«, sagte sie. »Dort drinnen ist jedenfalls alles ruhig.«
Skudder steckte wortlos die Pistole ein und nahm das Gewehr von den Schultern, aber Charity schüttelte den Kopf. »Du bleibst hier und paßt auf Leßter auf«, befahl sie. »Faller und ich gehen.«
Fast zu ihrer eigenen Überraschung widersprach Skudder nicht, und Charity gab auch Faller keine Gelegenheit zu irgendwelchen Einwänden, sondern nahm das Gewehr von der Schulter, schnippte mit dem Daumen den kleinen Schalter um, der die Waffe von tödlicher Energieabgabe auf Betäubung umschaltete, und befahl Faller mit einer Kopfbewegung, dasselbe zu tun.
Hintereinander und lautlos näherten sie sich ein zweites Mal der Tür. Charity blieb noch einmal stehen, sah sich sichernd nach rechts und links um - und stieß die Tür dann mit der Schulter auf.
Die Überraschung war vollkommen. Die Zentrale war weitaus größer, als Charity geglaubt hatte, und insgesamt mußten sich fast ein Dutzend Moroni darin aufhalten. Aber keiner von ihnen war bewaffnet, und Faller und sie gaben den Insektenkreaturen keine Chance, sich auf sie zu stürzen und ihre überlegenen Körperkräfte einzusetzen. Mit zwei, drei langanhaltenden Energiestößen aus ihren Waffen deckten sie den ganzen Raum ab, so daß die Moroni gelähmt über ihren Pulten zusammenbrachen und nicht einmal Zeit fanden, Alarm zu geben. Hier und da stoben Funken auf, und aus einigen Geräten quoll plötzlich Qualm, als die Hochfrequenzschwingungen Kurzschlüsse in den Stromkreisen verursachten. Aber es kam zu keinen größeren Beschädigungen, und die wenigen Brände, die aufflackerten, erloschen fast sofort wieder. Die ganze Aktion dauerte nur zwei oder drei Sekunden, dann war die Zentrale in ihrer Gewalt. Es war beinahe zu leicht.