Was er sah, das paralysierte ihn im ersten Moment, und vermutlich rettete ihm diese Lähmung das Leben, denn hätte es sie nicht gegeben, dann hätte er vor Schreck laut aufgeschrien.
Der Ring, der noch vor einer Sekunde nichts als ein schmuckloser Kreis aus Metall gewesen war, hatte sich mit wabernder Schwärze gefüllt. Es war nichts Körperliches, nichts, das wirklich da war, sondern die Schwärze der Unendlichkeit, die Abwesenheit von Licht, von Materie, vielleicht von Raum. Etwas wie eine Bewegung wogte darin, und noch bevor Frenchs Verstand bei dem Versuch, es wirklich zu erkennen, endgültig zusammenbrechen konnte, schien sich die Dunkelheit zu einem Körper zusammenzuballen. Und plötzlich trat eine riesige, sechsgliedrige Spinne von strahlendweißer Farbe aus der Schwärze heraus.
French starrte das Geschöpf entsetzt an. Er spürte, daß diese Spinne etwas Besonderes war, und es lag nicht nur an ihrer Farbe. In ihren Augen glomm eine beunruhigende Intelligenz, und eine Aura von fast körperlich greifbarer Macht umgab sie.
Die Dunkelheit hinter dem weißen Riesengeschöpf verblaßte langsam, so daß wieder der dahinterliegende Teil des Raumes zum Vorschein kam, und gleichzeitig hörte das Zittern des Bodens unter seinen Füßen auf. Die weiße Kreatur begann mit langen, aber nicht hastigen Schritten die metallenen Stufen vor dem Ring herabzuschreiten, und French erwachte endlich aus seiner Erstarrung und wich so schnell wie er es gerade noch wagte, ohne daß er auffiel, hinter eine der klobigen grauen Maschinen zurück.
11
Leßter benötigte sehr viel weniger als eine halbe Stunde, um das der Steuerung des Läufers zugrundeliegende Prinzip zu begreifen. Aber er hätte diese halbe Stunde auch gar nicht gehabt. Die gepanzerte Tür der Zentrale war dreimal unter ungeheuer harten Stößen erzittert, und zweimal hatte der Stahl zu glühen begonnen, als die Moroni Strahlenwaffen oder spezielle Werkzeuge einsetzten, um die Tür aufzubrechen; unverständlicherweise hatten sie ihre Bemühungen jedesmal wieder eingestellt, kurz bevor das Metall wirklich schmelzen konnte.
Aber Charity und die anderen wußten auch, daß ihr Kredit bei der Glücksgöttin längst überzogen war. Früher oder später würden die Moroni eine Möglichkeit finden, hier hereinzukommen.
Charity blickte einen Moment lang Leßter an, der vornüber gebeugt und mit konzentriertem Gesichtsausdruck über dem Steuerpult stand und vorsichtig hier einen Hebel bewegte, oder etwas in eine Tastatur eintippte, und konzentrierte sich dann wieder auf den Monitor, der den Gang vor der Zentrale zeigte. Im Moment sah sie nur vier oder fünf Ameisen, die mit schußbereit erhobenen Waffen die Tür bewachten, aber vor einigen Minuten hatte es dort draußen von Moroni gewimmelt. Und warum immer sie gegangen waren, sie würden zurückkommen und wahrscheinlich etwas mitbringen, mit dem sie diese Tür endgültig aufbrechen konnten. Charity vermutete, daß der einzige Grund, aus dem sie es noch nicht getan hatten, der war, daß sie die Tür öffnen wollten, ohne den dahinterliegenden Raum völlig zu verwüsten.
»Wie lange noch?« fragte Skudder.
Die Frage galt Leßter, der sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen fuhr und dann die Hand nach einem der bizarr geformten Hebel ausstreckte. Ein spürbares Schütteln ging durch den Rumpf des Läufers, als er ihn ein Stück weit nach oben bewegte und dann hastig wieder in seine Ausgangsposition zurückschob.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, wie es funktioniert«, sagte er. Er sah auf, aber anstelle von Zufriedenheit oder Erleichterung sah Charity in seinen Augen nur eine tiefe Verwirrung. »Das Ding ist so primitiv, daß es schon fast wieder genial ist«, murmelte er.
»Können Sie ihn steuern?« fragte Charity.
Leßter zögerte einen winzigen Moment, aber dann nickte er. »Ich glaube ja«, sagte er.
»Dann zeigen Sie mir, wie es funktioniert«, verlangte Skudder. »Ich übernehme die Steuerung ... Sie können sich inzwischen um den Rest hier kümmern.«
Leßter sah ihn fragend an, und Skudder fuhr mit einer Geste auf die brandgeschwärzte, verzogene Tür fort: »Die Wand wird nicht ewig halten. Wir müssen uns irgendwie verteidigen. Vielleicht gibt es irgendeinen Verteidigungsmechanismus. Einen Energieschirm oder Waffen.«
»Die gibt es sogar ganz bestimmt«, antwortete Leßter, »aber es hätte wenig Sinn, danach zu suchen.« Er deutete auf das Pult hinter sich. »Ich bin froh, daß ich das da verstehe. Für den Rest würde ich Stunden brauchen.«
»Sie sollten lieber versuchen, es in Minuten zu schaffen«, sagte Charity und blickte wieder auf den kleinen Monitor vor sich hinab.
Leßters Blick folgte dem ihren, dann drehte er sich herum und berührte mit einer fast routinierten Bewegung einen Schalter auf dem Pult. Auf dem großen Zentralmonitor verschwand das Bild des Schneesturmes und machte der gleichen Kameraeinstellung Platz, die auch Charity beobachtete: dem Korridor vor der Zentrale. Ein gutes Dutzend Moroni marschierte dort gerade auf und begann, ein Gerät auf einem großen, metallenen Dreibein zu montieren. Keiner von ihnen hatte einen Apparat wie diesen je zuvor gesehen, aber es gehörte auch nicht sehr viel Phantasie dazu, sich auszurechnen, wozu er diente.
Leßter fluchte halblaut, schaltete den Bildschirm wieder auf Außenbeobachtung um und begann hastig, an den Kontrollinstrumenten des Läufers zu hantieren. Eine Anzahl schwerer, krachender Stöße lief durch den Leib der Riesenmaschine, dann konnten sie fühlen, wie sich der gigantische stählernde Käfer zur Seite neigte und zitternd zu drehen begann.
»Was tun Sie da?« fragte Skudder alarmiert und hob seine Waffe.
Charity drückte seinen Arm herunter und schüttelte den Kopf. »Laß ihn«, sagte sie. »Ich glaube, er weiß, was er tut.« Dann blickte sie wieder auf den Bildschirm vor sich. Die Ameisen arbeiteten mit schon fast unheimlicher Schnelligkeit. Das Gerät - bei dem es sich nur um eine Waffe handeln konnte - war beinahe fertig montiert, und die Ameisen, die die Tür bewachten, begannen jetzt hastig zurückzuweichen.
Mühsam riß sie sich von dem Anblick los und trat an Leßters Seite. Das Gesicht des jungen Soldaten glänzte vor Schweiß, und sein Blick war starr. Seine Hände zitterten, aber sie bewegten sich trotzdem sehr schnell und präzise. Obwohl sie wußte, daß es unmöglich war, hatte sie das Gefühl, daß er etwas tat, worin er große Erfahrung hatte.
»Was haben Sie vor?« fragte sie.
Sie bekam keine Antwort, und der Ausdruck auf Leßters Zügen erklärte ihr, daß er ihre Frage nicht einmal gehört hatte. Eine weitere Sekunde lang starrte sie ihn an, dann hob sie den Blick und sah auf den großen sechseckigen Bildschirm.
Das Bild hatte sich nicht geändert: Vor dem Läufer tobte noch immer ein höllischer Orkan aus Schnee und Eiskristallen, und das Land schwankte noch immer wie betrunken von rechts nach links, hob und senkte sich. Aber sie hatte das Gefühl, daß die Maschine schneller geworden war. Und noch irgend etwas war nicht mehr so wie vor Augenblicken. Aber sie wußte nicht, was.
»Was tun Sie?« fragte sie.
Leßter antwortete auch jetzt nicht, aber seine Finger huschten schneller über die bizarren Tasten und Schalter. Das Stampfen der Schritte und das Rütteln des Bodens wurden heftiger, und dann mischte sich ein neues, fremdes Geräusch hinein: ein dumpfes, an- und abschwellendes Heulen, das immer lauter und lauter wurde, als wäre irgendwo ein gewaltiger Elektromotor angesprungen. Charity sah den jungen Soldaten mit immer größerer Beunruhigung an, aber Leßters Blick hing wie gebannt an den Skalen des Instrumentenpultes, und sie spürte, daß es besser war, ihn jetzt nicht anzusprechen.
»Charity!«