Sie wußte auch nicht mehr, wie lange sie schon hier hockten und gegen jede Logik noch am Leben waren. Leßter hatte behauptet, daß der Läufer allerhöchstens zehn Minuten brauchte, um den Rand der Todeszone zu erreichen, aber wenn, dann mußte auch die Zeit in diesem Teil der Welt gefroren sein, so daß sie viel langsamer und träger verstrich als normal.
Sie waren noch zweimal angegriffen worden - einmal von einer ganzen Flotte jener kleinen, buckeligen Kampfschiffe, die den Gleiter mit einem Hagel von Laserschüssen überschüttet hatten, ehe die automatischen Abwehreinrichtungen der Riesenmaschine sie vom Himmel fegten, ein anderes Mal von einem Dutzend bizarr geformter Kettenfahrzeuge, die plötzlich aus dem Schneesturm vor ihnen auftauchten und den stählernen Koloß einzukreisen versuchten. Der Läufer hatte zwei oder drei von ihnen einfach zermalmt, ehe sich der Rest wieder zurückgezogen hatte.
Charity wagte es nicht, auf den Bildschirm zu sehen. Es gab zwei Gründe dafür: Der eine war die Wand aus milchig-grauer, gefrorener Luft, die sich vor dem Läufer erhob und langsam näherkam - Leßter hatte behauptet, sie hätte nur eine Stärke von wenigen Dutzend Metern, und der Läufer könne sie durchbrechen, und sie hatten keine andere Wahl, als diese Behauptung zu glauben und ihr Leben darauf zu verpfänden, daß Leßter sich nicht irrte. Der andere Grund war Leßter selbst. In der Zentrale herrschten Temperaturen, die jedes Leben binnen Sekundenbruchteilen zum Erstarren bringen mußten.
Leßter nicht. Seine Gestalt hatte sich in eine bizarre Statue aus Eis verwandelt, und wenn er sich bewegte, dann knisterte und klirrte es, als spiele jemand mit einer gläsernen Marionette, aber er lebte noch.
»Wie ... lange ... noch?« stammelte Skudder. Die Worte waren kaum verständlich. Seine Zähne klapperten heftig, und als er wieder das Gewehr hob, um einen weiteren Schuß auf die Wand vor ihnen abzugeben, da gelang es ihm kaum, denn seine Hände waren erstarrt.
»Noch ein paar Minuten«, antwortete Leßter. »Halten Sie durch.«
Charity hätte gelacht, hätte sie es noch gekonnt. Aber sie wagte es nicht zu sprechen, denn sie hatte plötzlich die absurde Vorstellung, daß die Worte sich in kleine, scharfkantige Eisscherben verwandeln mußten, die ihr Zunge und Mund zerschnitten. Zitternd drängte sie sich enger an Skudder und Faller heran. Sie hatten den noch immer Bewußtlosen in eine halb sitzende Position aufgerichtet und sich eng an ihn geschmiegt, um sich gegenseitig mit ihren Körpern zu wärmen. Aber sie war nicht einmal mehr sicher, daß Faller noch lebte. Sein Gesicht war zu einer weißen Maske geworden, und der Stoff seiner Jacke war so hart, daß er zerbrach, wenn sie zu heftig dagegen drückte.
Plötzlich änderte sich etwas im stampfenden Rhythmus der Schritte, mit denen der Läufer über das Land pflügte. Charitys Gedanken waren von einem Nebel aus Müdigkeit und Schwäche verwirrt, und sie spürte tief in sich eine verlockende Wärme, den immer stärker werdenden Wunsch, einfach die Augen zu schließen und sich fallenzulassen, keine Kälte, keinen Schmerz, kein Müdigkeit mehr zu verspüren, sondern nur noch einen dunklen, endlosen Schlaf. Sie hatte einmal gehört, daß Erfrieren ein leichter Tod sein sollte, aber wie so vieles, was sie gehört hatte, war das einfach nicht wahr. Es war entsetzlich. Die Kälte war längst auch durch ihren Anzug gekrochen und schien jede einzelne Zelle ihres Körpers in Brand zu setzen. Es war wie ein Verbrennen, nur sehr, sehr viel langsamer.
Wieder ließ ein dumpfer Stoß den Läufer erbeben, und diesmal spürte sie deutlich, wie sich die ganze gigantische Maschine zur Seite neigte und erst im letzten Moment ihre Balance wiederfand. Sie sah auf, blickte aus tränenverschleierten Augen zum Bildschirm hoch und sah nichts weiter als eine unendliche, graue Wand; erstarrter, farbloser Nebel, in dem helle und dunkle Schlieren eingefangen waren, und der das Universum von einem Ende zum anderen verhüllte.
»Achtung!« schrie Leßter. »Jetzt!«
Charity sprang mit einem Satz auf den Bildschirm zu, und dann erschütterte ein ungeheurer Schlag den Läufer. Das Universum auf dem Monitor kippte zur Seite, der Boden unter ihnen senkte sich, und ein Vibrieren, das Charitys Zähne abermals schmerzhaft aufeinanderschlagen ließ und sie um ein Haar völlig zu Boden schleuderte, lief durch die Riesenmaschine. Ein stöhnender Laut erklang, dann das furchtbare Splittern und Krachen von zerberstendem Metall - und plötzlich war der graue Nebel auf dem Bildschirm verschwunden und helles, in den Augen schmerzendes Sonnenlicht flutete über den Monitor in die Zentrale.
Das Schütteln des Bodens und das ungeheure Splittern und Krachen und Bersten hielten an. Der Lärm wurde so gewaltig, daß Charity mit einem Schrei die Hände vor die Ohren schlug, ohne das Geräusch dadurch aussperren zu können. Für einen Moment war es schlimmer als die Kälte. Schläge wie von gigantischen Hämmern erschütterten den Läufer, und die Welt auf dem Bildschirm tanzte immer noch wie betrunken hin und her. Irgendwo tief unter ihren Füßen zerbrach etwas, etwas gigantisch Großes, dann neigte sich der Boden des Läufers mit einem Schlag und so heftig, daß sie alle drei den Halt verloren und quer durch den Raum geschleudert wurden.
Eine stählerne Wand beendete ihren Sturz. Das Metall war so kalt, daß ihre Wange und ihre linke Hand, die es berührten, daran kleben blieben. Ihre Haut war taub vor Kälte, aber als sie sich mit einem Ruck in die Höhe stemmte, da blieben blutige Hautfetzen an dem Metall zurück, und sie spürte, wie Blut an ihrem Gesicht herablief. Alles drehte sich um sie. Sie versuchte, vollends in die Höhe zu kommen, aber ihre Kräfte reichten nicht mehr, und die Kälte sprang sie jetzt an wie ein Raubtier, das geduldig darauf gewartet hatte, daß sie in seine Nähe kam. Sie keuchte, fiel auf Hände und Knie herab und spürte, wie ihre Sinne zu schwinden begannen. Und es war keine normale Bewußtlosigkeit, die hinter dem sich immer schneller drehenden Wirbel in ihren Gedanken lauerte.
Vielleicht war sie in ihrem Leben dem Tod noch nie so nahe wie jetzt gewesen. Aber sie wurde ihm noch einmal entrissen, und das im wortwörtlichen Sinne. Eine Hand griff nach ihrer Schulter und zerrte sie in die Höhe, sie fühlte sich nach vorn gestoßen und abermals gepackt - und plötzlich pulsierte ein Strom kribbelnder, fast schmerzhafter Wärme durch ihren Körper!
Verblüfft öffnete sie die Augen und blickte in Leßters Gesicht. Es war von einer Rauhreifschicht bedeckt, die sich wie eine Totenmaske aus Eis auf seinem Gesicht niedergelassen hatte und die Konturen nachzeichnete. Aber etwas darunter ... war anders geworden. Sie wußte nicht was. Es war keine körperliche Veränderung, auch nichts in seinem Blick, sondern ein fast unheimlicher Wandel, als hätte sich etwas dicht unter der Oberfläche des Sichtbaren verschoben, in eine Richtung, die sie ebensowenig bestimmen konnte wie die Art dieser Veränderung.
»Geht es besser?«
Charity hätte vermutlich nicht einmal geantwortet, hätte ihre Zunge ihr gehorcht - was sie in diesem Moment nicht tat. Mit einer Mischung aus Entsetzen und immer tiefer werdender Verwirrung starrte sie Leßter an. Der Strom unheimlicher Wärme war noch immer da, ein Gefühl, das aus Leßters Hand in ihren Körper strömte und eigentlich keine wirkliche Wärme war, sondern eher ein Strom prickelnder, pulsierender Kraft, der die Kälte in ihrem Körper nicht vertrieb, es Charity aber möglich machte, sie zu ertragen. Und mit dem noch etwas in sie hineinzufließen schien. Etwas Unheimliches, durch und durch Fremdes, das ihr trotzdem auch irgendwie bekannt vorkam.
Sie hörte ein Stöhnen neben sich und wandte mühsam den Kopf. Skudder stand neben ihr, halb gegen ein geborstenes Pult gelehnt und wie sie mit blutenden Händen und Gesicht. Leßter hatte die linke Hand auf seine Schulter gelegt, so wie seine rechte auf Charitys ruhte, und der Ausdruck in Skudders Augen sagte ihr, daß der gleiche Strom unheimlicher Kraft auch in seinen Körper floß und ihn am Leben erhielt.