»Glauben Sie, daß Sie es jetzt allein schaffen?« fragte Leßter. »Ich muß mich um die Kontrollen kümmern.«
Es war verrückt - aber Charity spürte, daß die Sorge in seiner Stimme echt war. Sie nickte schwach, und Leßter wandte sich um und eilte mit zwei schnellen Schritten zum Kontrollpult des Läufers zurück.
Sie wankte. Der Zustrom kräftigender Energie war im gleichen Moment abgebrochen, in dem Leßters Hand sie nicht mehr berührte, und von einem Sekundenbruchteil auf den anderen spürte sie die grausame Kälte wieder. Aber sie konnte sie jetzt ertragen. Sie war nur noch qualvoll, nicht mehr tödlich. Es war, als wäre etwas von der unheimlichen Kraft des jungen Soldaten in ihr zurückgeblieben, um sie zu beschützen.
Mühsam drehte sie sich halb herum, blickte erst Skudder und dann die verkrümmte Gestalt Fallers zu ihren Füßen an. Sie mußte sich nicht einmal zu ihm herunterbeugen, um zu wissen, daß er tot war. Niemand konnte diese fürchterlichen Temperaturen überleben.
»Faller...« flüsterte sie. »Er ist...«
»Ich konnte nichts für ihn tun«, sagte Leßter. »Es tut mir leid. Aber ich konnte nur Sie beide retten.«
Und auch diesmal war der bedauernde Ton in seiner Stimme nicht geschauspielert. Charitys Verwirrung wuchs. Es gelang ihr einfach nicht mehr, Leßter mit dem gleichen Mann zu identifizieren, der vor kaum einer Stunde einen seiner Kameraden getötet hatte, aus nichts anderem als dem gnadenlosen Kalkül einer Maschine heraus, die ihr Unternehmen gefährdet sah. Sie hatte sein Benehmen in den letzten Stunden mehrmals mit dem eines Roboters verglichen, aber sie wußte jetzt, daß dieser Vergleich falsch war. Was immer es war, das von Leßter Besitz ergriffen hatte, es war keine Maschine.
Sie riß ihren Blick vom Leichnam des Soldaten los und schleppte sich mit kleinen, mühsamen Schritten zum Steuerpult. Wie alles hier drinnen war es von einem dicken Eispanzer überzogen, und ihre Hände hinterließen blutige Spuren darauf, als sie sich abstützte. Es kostete all ihre Kraft, den Kopf zu heben und auf den sechseckigen Schirm zu blicken.
Was sie sah, das entlockte ihr trotz allem einen überraschten Laut.
Der Läufer bewegte sich weiter. Die Landschaft vor der gewaltigen Maschine schwankte sanft auf und ab und von rechts nach links, aber es war kein tobender Schneesturm mehr, keine von Schnee und Eis bedeckte Landschaft, sondern das sanft gewellte Hügelland südlich New Yorks, das von einer hellen August-Sonne beschienen wurde. Dabei war es erst Minuten her, daß sie eine Mauer aus gefrorener Luft durchbrochen hatten. Offensichtlich wirkte der Kälteschirm, der New York umgab, nur in eine Richtung. Charitys Phantasie kapitulierte vor der Aufgabe, sich die Technik vorzustellen, die so etwas zustande brachte.
»Sie werden wissen, daß wir kommen«, sagte sie.
»Selbstverständlich.« Leßter nickte und deutete auf einen Punkt in der oberen rechten Bildschirmecke. »Sehen Sie.«
Charity blinzelte ein paarmal, denn ihre Augen tränten noch immer vor Kälte, aber dann sah sie, was Leßter entdeckt hatte: Ein ganzer Schwarm winziger, silberfarbener Punkte schwebte dort oben am Himmel. Manchmal sah sie ein orangerotes Aufglühen, wenn einer der Gleiter seine Position veränderte, aber die Schiffe kamen nicht näher. Offensichtlich hatten ihre Besatzungen einen gesunden Respekt vor dem Selbstverteidigungsmechanismus des Läufers.
Oder sie warteten auf etwas anderes...
Ihr Blick löste sich von der kleinen Gleiterflotte am Himmel und suchte den Horizont ab.
Nach allem, was sie erlebt hatte, traf sie der Anblick mit unerwarteter Härte. Sie hatte erwartet, New York zerstört vorzufinden. Ebenso verheert wie all die anderen Großstädte, die sie gesehen hatte, seit sie aus ihrem ein halbes Jahrhundert dauernden Schlaf erwacht war. Aber das war es nicht. Die Türme Manhattans standen unverändert, die Skyline der Stadt bot den gleichen Anblick, den sie immer geboten hatte. Das Land, über das der Läufer schritt, gehörte schon zum ehemaligen Stadtgebiet New Yorks, aber unmittelbar vor ihnen erstreckte sich nichts als eine wuchernde Wildnis aus Grün und den unheimlichen, blaßroten Pflanzen, die die Invasoren auch hierher mitgebracht hatten. Nur hier und da ragte ein Teil eines Hauses, ein Stück einer unkrautüberwucherten Ruine oder einige wenige Meter einer verfallenen Straße aus dem Dschungel. Aber vor Manhattan schien die Zerstörung haltgemacht zu haben. Trotzdem konnte Charity keinerlei Erleichterung empfinden.
16
Die blinkenden Lichter über den Lifttüren verrieten ihm, daß der Aufzug das Erdgeschoß des Wolkenkratzers passiert hatte und sich nun tiefer in die Kellergeschosse hineinbewegte. Gurk hatte sich den Weg hier herab sehr genau eingeprägt, als Stone ihn hergebracht hatte. Es war drei Monate her, und er war halb bewußtlos gewesen, aber neben vielen anderen Eigenschaften, die wohl kaum jemand dem häßlichen Gnom zugetraut hätte, verfügte Abn El Gurk auch über ein eidetisches Gedächtnis, das mit der Präzision eines Computers funktionierte und jede noch so winzige Kleinigkeit speicherte, um sie nie wieder zu vergessen. Mehrmals während dieser drei Monate hatte er seine Zelle verlassen und war in andere Teile des Gebäudes hinaufgebracht worden, und er hatte sich jedes noch so winzige Detail eingeprägt und sich den Rest - die Regeln der Architektur kennend, nach denen die Bewohner dieser Planeten ihre Häuser erbauten - mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit dazugedacht. Er war sicher, daß er den Weg aus diesem Gebäude finden würde.
Sorgen bereiteten ihm allenfalls die beiden Ameisen, die ihn aus Stones Privatgemächern hier herab brachten. Gurk zweifelte nicht daran, daß er die beiden Insektenkreaturen überwältigen konnte. Nicht hier drinnen natürlich. Der Aufzug war einfach zu eng, um sich auf ein Duell mit diesen riesigen, entsetzlich starken Geschöpfe einzulassen. Und er mußte es schnell tun. Wenn auch nur eine von ihnen Gelegenheit bekam, Alarm auszulösen, dann war alles verloren.
Der Aufzug hielt an, die Türen glitten auf, und Gurk spannte sich innerlich, um sich auf die vor ihm gehende Ameise zu stürzen und ihr die Waffe zu entreißen, entschied sich dann aber im letzten Moment anders, als er sah, daß der Gang vor dem Aufzugschacht nicht leer war. Fast ein halbes Dutzend Moroni bevölkerten den kahlen Betonkorridor, und an seinem Ende konnte er das hochfrequente Zischen und Pfeifen der Stimmen weiterer Insektenkrieger vernehmen.
So verließ er gehorsam und ohne das geringste Zeichen von Widerstand den Lift und wandte sich nach rechts. Die beiden Moroni gingen schnell, so daß er gezwungen war, in einen leichten Trab zu verfallen, aber das war ihm nur recht. Auf diese Weise würde es ihm vielleicht noch eher gelingen, sie zu überraschen.
Gurks Gedanken wanderten zurück zu dem kurzen Gespräch mit Stone, und erneut spürte er diese tiefe, beunruhigende Verwirrung, die ihn bei den Worten des Governors überkommen hatte. Abn El Gurk hatte im Laufe der Jahrhunderte eine Menge von dem gehässigen Zwerg angenommen, den er so gern spielte, und so kam es, daß er nur äußerst selten bereit war, Fehler oder Unzulänglichkeiten zuzugeben, die ihm unterlaufen waren. Aber Governor Stone verwirrte ihn immer mehr. Vielleicht war es das erste Mal in seinem Leben, daß er sich in seinem Gegenüber getäuscht hatte. Bisher hatte er Stone für einen Verräter gehalten, allenfalls für einen Feigling, und seine plötzliche Bereitschaft, Charity und den anderen Rebellen zu helfen, auch nur für einen weiteren Akt der Feigheit; ein verzweifelter Ruck an seinem Mantel, den er im letzten Moment wieder in den Wind zu hängen versuchte, um ein Sprichwort der Menschen aufzugreifen. Aber jetzt war Gurk sich nicht mehr sicher. Was Stone nun getan hatte - wenn es nicht ein weiterer, raffinierter Schachzug war, aber etwas sagte Gurk, daß die Intelligenz dieses Mannes dazu einfach nicht mehr ausreichte -, das entsprach nicht der Logik eines Verräters, der nur seinen eigenen Vorteil im Auge hatte. Aber es gelang ihm auch nicht, Stone als einen Menschen zu sehen, der bereit war, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um seinem Volk zu helfen. Nein - Gurk war zum ersten Mal in seinem Leben zutiefst verwirrt und unschlüssig.