»Nein«, unterbrach ihn Charity hastig. »Das sind nicht wir, Skudder. Sie sehen nur so aus wie wir. Es sind Kopien; Doppelgänger.« Aber das stimmte nicht. Es waren nur Worte, Worte, die sie hervorsprudelte, um nicht völlig den Verstand zu verlieren. Der Mann, der vor ihr stand und sie mit schreckensbleichem Gesicht anblickte, war vor einer Minute in ihren eigenen Armen gestorben, und es war Skudder gewesen, keine Kopie, kein Doppelgänger, keine Täuschung. Aber ihr Verstand kapitulierte vor der Aufgabe, zu verstehen, was hier passiert war.
»Sagt mal«, sagte Gurk plötzlich, »fällt euch etwas auf?«
Charity sah ihn an. Der Blick aus Gurks eng zusammengekniffenen, dunklen Augen huschte aufmerksam durch die Halle.
»Was?« fragte Charity.
Gurk deutete nacheinander auf einige der reglosen Körper. »Vier Charitys. Viermal Stone und vier übriggebliebene Indianerhäuptlinge, und vier...« er zog eine Grimasse und schüttelte sich, »Abn el Gurks. Aber nur drei Leßters.«
Charity drehte sich herum und zwang sich, die reglosen Gestalten eine nach der anderen anzusehen. Tatsächlich gab es sie alle in vierfacher (und toter) Ausführung. Alle, bis auf Leßter. Sie entdeckte nur drei Leichen mit seinem Aussehen.
»Und?«
Gurk zuckte mit den Achseln. »Nichts. Ich frage mich nur, ob es etwas zu bedeuten hat.«
»Vielleicht ist er ... dort drinnen geblieben«, sagte Skudder. Schaudernd deutete er mit einer Kopfbewegung auf den Transmitter. Gurk schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Er ist direkt hinter Charity rausgekommen und hat Stone mit sich gerissen. Nicht wahr, Dannilein?« Er grinste in Stones schreckensbleiches Gesicht und wandte sich dann wieder zu Skudder um. »Das Ding hat ihn genauso oft kopiert wie uns. Aber einer fehlt.«
»Du glaubst doch nicht, daß er dafür verantwortlich ist?« entfuhr es Charity.
»Ich glaube überhaupt nichts«, sagte Gurk. »Aber irgend jemand hat irgend etwas getan. Und wenn ich es nicht war und keiner von euch...«
Auf dem Schaltkasten des Transmitters hinter ihm begann eine gelbe Lampe zu flackern, und Gurk fing Charitys erschrockenen Blick auf und drehte sich herum. »Oh«, sagte er, »da klopft jemand.«
»Können sie den Transmitter von unten aus einschalten?« fragte Skudder besorgt.
Gurk zuckte abermals mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er. Er sah sich suchend um, bückte sich und nahm die Waffe aus der Hand einer toten Charity. Fast gelassen zielte er auf das winzige Kästchen, drückte ab, und die Schalttafel verwandelte sich in einen rot glühenden Metallklumpen. »Jetzt jedenfalls nicht mehr«, sagte er grinsend, während er sich wieder zu Skudder herumdrehte. »Trotzdem schlage ich vor, daß wir diesen ungastlichen Ort verlassen und uns ein Versteck suchen, in dem wir uns in Ruhe gruseln können.«
»Hast du eine Ahnung, wo wir sind?« fragte Skudder.
Gurk schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Aber ich«, sagte Charity.
Sowohl Skudder als auch der Zwerg sahen sie überrascht an.
»Ich ... bin nicht ganz sicher«, fuhr Charity fort. Sie drehte sich einmal im Kreis und ließ ihren Blick durch die riesige, verwüstete Halle schweifen. »Aber ich bin schon einmal hier gewesen.«
»Wo sind wir?« fragte Skudder.
Charity antwortete nicht gleich, sondern sah sich weiter unschlüssig um. »Gib mir noch ein paar Minuten«, sagte sie. »Damit ich sicher sein kann.«
»Gern«, sagte Gurk. »Aber nicht hier. Ich weiß zwar so wenig wie ihr, was hier passiert ist, aber ich bin sicher, daß hier gleich eine Putzkolonne auftaucht, um die Schweinerei wegzuwischen. Eigentlich habe ich keine Lust, dann noch da zu sein.«
Charity fand seinen Tonfall im Augenblick nicht besonders passend, aber das, was er sagte, stimmte. Im Grunde war es schon ein kleines Wunder, daß es hier nicht schon wieder von Kriegern wimmelte. Aber das würde nicht mehr lange so bleiben.
Sie wandte sich zu Stone um, gab ihm mit einer befehlenden Geste zu verstehen, zwischen Skudder und ihr zu bleiben, und drehte sich dann zum Ausgang.
Als sie die Bewegung halb vollendet hatte, registrierte sie einen Schatten aus den Augenwinkeln, fuhr herum und riß ihre Waffe hoch, als sie den Moronikrieger erkannte, der sich zwischen zwei der buckeligen Maschinenblocks aufrichtete.
Der Krieger stieß einen erschrockenen Ruf aus und riß die beiden oberen Arme in die Höhe, und plötzlich schrie auch Gurk: »Nicht schießen! Das ist keiner von ihnen!«
Charity drückte nicht ab, aber sie hielt die Waffe weiter auf die bizarre Gestalt gerichtet, während sie sich ihr vorsichtig näherte. Gurk hatte recht, es war kein Moroni, zumindest keiner, wie sie ihn je gesehen hätte.
Auf einen allerersten und auch dann nur sehr flüchtigen Blick mochte er einem solchen ähneln, aber er war zu klein, seine Glieder waren zu dick und zu kurz, und die Proportionen stimmten nicht.
Das bizarre Geschöpf wandte langsam den Kopf und sah ihr entgegen, während Charity sich ihm näherte. Der Anblick kam ihr immer absurder vor. Sie sah jetzt, daß seine Haut nicht aus schwarzem Horn bestand, sondern einer gummiähnlichen, faltigen Masse, die nicht die mindeste Ähnlichkeit mit dem Exoskelett einer der riesigen Insektenkreaturen hatte. Die beiden mittleren der sechs Glieder hingen schlaff wie leere Schläuche von seinem Körper herunter, und mehr waren sie vermutlich auch nicht. Sein Schädel hatte die typische dreieckige Form eines Ameisenkopfes, bestand aber aus ungeschickt zusammengeklebten Kunststoffteilen, und die großen, starrenden Augen waren Halbkugeln aus Glas. Die Gestalt sah aus, als hätte ein Kind mit unzulänglichen Möglichkeiten und wenig Geschick versucht, sich ein Karnevalskostüm in der Form eines Moroni zusammenzubasteln.
»Wer zum Teufel sind Sie?« fragte Charity.
Die Gestalt fuhr beim Klang ihrer Stimme sichtbar zusammen. Sie versuchte zurückzuweichen, blieb aber sofort wieder stehen, als Charity eine drohende Bewegung mit dem Gewehr machte.
»Was soll das?« fragte Charity. »Wer sind Sie?«
Sie hörte etwas wie eine Antwort, aber die Stimme - obwohl eindeutig menschlich - wurde von der plumpen Maske so verzerrt, daß sie sie nicht verstand. Charity machte eine auffordernde Geste mit der Hand, den Helm herunterzunehmen. Der sonderbare Fremde zögerte, senkte dann ganz langsam, als hätte er Angst, sie durch eine zu hastige Bewegung zu erschrecken, die Hände, legte sie an die Schläfen des imitierten Ameisenschädels und hob ihn wie den Helm einer archaischen Ritterrüstung herunter.
Darunter kam ein bleiches, von langem, verfilztem schwarzem Haar eingerahmtes Gesicht zum Vorschein. Es war eindeutig menschlich - und trotzdem fuhr Charity erschrocken zusammen, als sie es sah.
Der junge Mann - sein Alter war unmöglich zu schätzen, er konnte ebensogut fünfzehn wie fünfundzwanzig sein - hatte ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht von makellos weißer Farbe. Nicht weiß in der Art, in der man das Wort normalerweise benutzte, um die verschiedenen Völker auseinanderzuhalten, sondern im wortwörtlichen Sinne. Seine Augen waren riesengroß und von einem Netz dünner, geplatzter Aderchen durchzogen, und in seinen Mundwinkeln klebte getrocknetes Blut. Alles in seinem Gesicht war irgendwie falsch, als wäre es zwar nach dem richtigen Plan entworfen, aber nicht ganz korrekt zusammengesetzt worden. Die Wangenknochen waren zu hoch angesetzt, der Mund eine Spur zu breit, die Nase etwas zu scharf, die Augen zu groß ...
»Wer sind Sie?« wiederholte Charity ihre Frage. »Verstehen Sie mich?«
Ihr Gegenüber nickte abgehackt. »French«, sagte er. »Ich bin ... French.«
Auch seine Stimme klang sonderbar. Gepreßt und verzerrt und schrill, als stieße er die wenigen Worte mit letzter Kraft hervor.
»Was tust du hier?« fragte Gurk, der mittlerweile herangekommen war und die Gestalt mit unverhohlener Verblüffung anstarrte.