Hagen erschrak, als er in das Gesicht des Langobarden blickte. Grimwards Züge waren grau und eingefallen, eine Maske der Erschöpfung. Er wirkte krank Und ein Blick in die Gesichter der anderen zeigte ihm, daß es um sie nicht besser bestellt war. Sie alle hatten die Grenzen ihrer Kraft weit überschritten. Wie ein Stich durchfuhr Hagen die Erkenntnis, daß er drauf und dran gewesen war, Männer und Tiere zu Tode zu hetzen. Er hatte es nicht einmal bemerkt. Und nicht einer der Männer hatte protestiert oder auch nur einen Laut der Klage von sich gegeben. »Herr?«
Jetzt, da Worms vor ihnen lag und das Leben bei Hofe und die gewohnte Welt zum Greifen nahe waren, fiel Grimward wieder in die gewohnte förmliche Anrede zurück. Hagen widersprach nicht. Die Worte der Freundschaft, die er am Morgen zu ihm gesprochen hatte, waren einem Moment der Schwäche entsprungen. Einer Schwäche, die er sich nicht leisten konnte. Nicht hier. Grimward wußte das.
Hagen antwortete nicht gleich. Er starrte mit zusammengekniffenen Augen nach oben. Über dem Fluß, etwa auf gleicher Höhe mit ihnen, kreiste ein glänzender schwarzer Punkt. Die Krähe, dachte Hagen. Sie war ihnen gefolgt.
»Dein Bogen, Grimward«, sagte Hagen, »bist du noch so gut damit wie früher?« Grimward begriff nicht, faßte aber automatisch nach dem schmucklosen braunen Eibenbogen, den er im Steigbügel trug wie andere eine Lanze.
»Warum?«
Hagen deutete auf die Krähe. »Schieß sie herunter«, sagte er knapp. Nach Worms kommst du nicht, Unglücksvogel.
»Ich ...« Grimward blickte verständnislos auf die Krähe, dann in Hagens Gesicht und wieder auf die Krähe, die unbeteiligt über dem Fluß ihre Kreise zog. Zögernd zuerst, dann aber entschlossen nahm Grimward einen seiner beiden letzten Pfeile aus dem Köcher, legte ihn ein, spannte die Sehne und schoß; schnell und ohne lange zu zielen, wie er es immer tat. Der Pfeil sirrte davon, geradewegs auf die Krähe zu, wurde von einer plötzlichen Bö erfaßt und fiel weit hinter dem schwarzen Vogel ins Wasser.
Grimward stieß einen halblauten Fluch in seiner Muttersprache aus und wollte nach seinem letzten Pfeil greifen, aber Hagen hielt ihn zurück. »Laß es«, murmelte er. »Das war es nur, was ich wissen wollte.« Du kannst nicht mit Pfeilen nach dem Schicksal zielen.
Er schnalzte mit den Zügeln, gab seinem Pferd die Sporen und ritt durch das Tor, ohne auf die anderen zu warten.
Auf dem Innenhof herrschte reges Treiben, und für einen Moment kam es Hagen vor, als wäre er mit einem Schlag in eine vollkommen fremde Welt versetzt worden. Männer und Frauen hasteten hin und her, schleppten Körbe und Krüge, es war ein Geschiebe und Gedränge, ein Lachen und Rufen, und alle taten sich wichtig und schienen voll freudiger Erwartung zu sein. Ein paar alte Weiber aus der Stadt waren damit beschäftigt, Girlanden aus bunten Bändern zu flechten, und als Hagen hereingeritten kam, eilte ihm ein halbes Dutzend Knechte entgegen, um sein Pferd zu halten und ihm und den anderen beim Absitzen zu helfen. Hagen beachtete sie nicht, ritt, schneller vielleicht, als auf dem mit Menschen überfüllten Hof ratsam war, weiter und hielt erst vor der säulengeschmückten Freitreppe, die zum Haupt- und Wohnhaus hinaufführte. Noch ehe das Pferd vollends stand, schwang er sich aus dem Sattel, löste den Schild vom Sattelgurt und lief ein paar Schritte die Treppe hinauf - blieb stehen und sah sich stirnrunzelnd um. Die Festung war geschmückt wie zu einem Fest, und was er sah, schien nur ein Teil der getroffenen Vorbereitungen zu sein: vor dem Küchenhaus stand ein Wagen mit frisch gebackenem Brot, auf einem anderen lag ein schon ausgeweideter und geviertelter Ochse, und aus den Gebäuden, die sich längs des Hofesgegen die Mauern lehnten, drang lebhafter Lärm und verriet, daß auch dort überall eitrig gearbeitet wurde. »Hagen! Ohm Hagen! Du bist zurück!«
Hagen schrak aus seinen Betrachtungen, er drehte sich um und lächelte unwillkürlich, als er Giselher erkannte, den jüngsten der drei Brüder, die über Worms und Burgund herrschten: Gunther, Gernot und Giselher. »Hagen!« sagte Giselher noch einmal. Seine dunklen Augen blitzten erfreut, als er Hagen entgegeneilte und ihn übertrieben kraftvoll in die Arme schloß. Hagen ließ es einen Moment geschehen, ehe er seine Umarmung mit sanfter Gewalt sprengte und ihn auf Armeslänge von sich schob. Giselher lachte. Seine Stimme klang tief und voll und wollte nicht recht zu dem sanften, edel geschnittenen Gesicht unter dem schwarzgelockten Haar, seiner hohen, schlanken Gestalt und seinen schmalen Händen passen. Er war der jüngste der drei Brüder, aber er war schon jetzt, obwohl er den Schritt vom Knaben zum Mann noch nicht ganz vollzogen hatte, größer als Hagen und sehr kräftig. Schon so mancher, der geglaubt hatte, seine schlanken Finger wären eher geeignet, eine Schreibfeder oder Kinderspielzeug zu halten als ein Schwert, hatte sich eines Besseren belehren lassen müssen. »Daß du zurück bist, und gerade heute!« Er lachte wieder, umarmte Hagen ein zweites Mal, ohne sich darum zu kümmern, daß sich ein solches Benehmen für einen König in der Öffentlichkeit nicht schickte, und trat einen Schritt zurück, um Hagen zu betrachten. »Du siehst erschöpft aus«, sagte er und fügte, nach einem raschen Blick auf Hagens Begleiter, die nacheinander aus den Sätteln gestiegen waren und mit hängenden Schultern über den Hof zu ihren Quartieren gingen, hinzu: »Und deine Begleiter auch. Ihr müßt die ganze Nacht geritten sein, um rechtzeitig wieder in Worms zu sein.«
»Rechtzeitig wofür?« fragte Hagen interessiert. »Ich sehe, daß Vorbereitungen für ein Fest getroffen werden.« Er lächelte. »Ihr schmückt die Burg wohl kaum zur Feier meiner glücklichen Rückkehr, oder?« »Nein - obgleich es Grund genug wäre, ein Fest zu feiern, wenn ein Freund gesund von der Reise heimkehrt. Burgund hat endlich Frieden mit Rom geschlossen, Hagen - du hast unterwegs noch nichts davon gehört?« Hagen schüttelte verblüfft den Kopf. Giselhers Eröffnung kam überraschend; und sie erschien ihm zudem sinnlos. »Einen Frieden? Hatten wir denn Krieg?«
Giselher lachte. »Nein. Aber es ist...« Er brach ab, schüttelte den Kopf und machte eine wegwerfende Bewegung mit der linken Hand. »Was rede ich da? Du kommst zurück von einer Reise, die dir sicherlich Aufregenderes beschert hat als langweilige Politik und Friedenspakte, die ohnehin bei der erstbesten Gelegenheit gebrochen werden. Später ist Zeit genug, darüber zu reden. Jetzt berichte, was dir widerfahren ist.« Sein Lächeln wurde schalkhaft. »Hast du viele Drachen getötet und Riesen bezwungen?«