Er hatte verloren. Kriemhild würde ihn hassen, wenn er Siegfried tötete, ihr Leben lang. Sie liebte Siegfried, und wenngleich dieser Gedanke allein ausreichte, Hagen an den Rand des Wahnsinns zu treiben, so machte er es ihm doch gleichzeitig unmöglich, den einzigen Ausweg zu wählen, der ihm außer dieser Flucht blieb. Kriemhild liebte Siegfried, und vielleicht würde sie, trotz allem, mit ihm glücklich werden. Sie würde verletzt sein, vielleicht zornig auf Hagen, daß er ging, ohne Abschied, ohne ein Wort der Erklärung, aber wenn er Siegfried tötete, würde sie ihn hassen. Und das durfte nicht geschehen.
Er zügelte sein Pferd, wandte sich im Sattel um und blickte noch einmal zur Burg zurück. Er hatte sich weiter von ihr entfernt, als er geglaubt hatte. Das grelle Gegenlicht der Sonne, die hinter dem höchsten Turm der Festung stand, ließ die Umrisse verblassen.
Trotzdem war er noch nicht weit genug. Er mußte weiter fort - so weit, daß eine Rückkehr unmöglich war. Vielleicht würde er irgendwo Ruhe finden, in irgendeiner Stadt, irgendeinem Land, in dem ihn niemand kannte.
Der Gedanke an die Zukunft ließ ihn sonderbar unberührt. Bisher hatte er stets mit einer gewissen Neugier in die Zukunft geblickt - jenen kleinen Teil seines Lebens, der ihm noch blieb, und der sowohl Gutes als auch Schlechtes bringen mochte. Jetzt fühlte er nichts. Die Zeit, die vor ihm lag, war leer.
Er lenkte sein Tier über die Uferböschung und zum Flußufer hinunter und gestattete ihm, kurz stehenzubleiben und seinen Durst zu löschen. Er spürte plötzlich, wie hungrig er war und wieviel Wein er getrunken hatte, aber das leise Gefühl sich ankündigender Übelkeit in seinem Magen tat beinahe wohl, denn es erinnerte ihn daran, daß das Leben vielleicht doch noch weiterging, wenn sein Körper selbst in einem Augenblick wie diesem sein Recht forderte. Geduldig wartete er, bis der Rappe sich satt gesoffen hatte, dann tätschelte er seinen Hals, zog sanft an den Zügeln und gab ihm mit leisem Schenkeldruck den Befehl, weiterzutraben. Es gab jetzt keinen Grund zur Eile mehr. Er hatte Zeit. Mehr, als er haben wollte.
Als er die Böschung wieder hinaufritt, kam ihm ein Reiter entgegen, sehr schnell und mit wehendem Mantel. Hagen erschrak. Im ersten Moment dachte er, daß ihm jemand gefolgt sei, womöglich Gunther selbst. Aber der Reiter kam nicht aus Worms, sondern aus der entgegengesetzten Richtung, und nach ein paar Augenblicken erkannte er seinen Bruder. Dankwart preschte heran, als würde er von einem Rudel reißender Wölfe gejagt. Von den Flanken seines Pferdes troff schaumiger Schweiß, aber er gönnte dem Tier selbst jetzt keine Pause, sondern riß es roh herum und trieb es mit unvermindertem Tempo auf Hagen zu. Seine Sporen gruben blutige Furchen in die Flanken des Pferdes, und als sie näher kamen, konnte Hagen hören, wie schnell und unregelmäßig der Atem von Tier und Reiter ging. »Hagen, du hier!« keuchte Dankwart überrascht, kaum daß er sein Pferd halbwegs zum Stehen gebracht hatte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und seine Hände zitterten.
»Was treibt dich hier draußen herum?« fragte Hagen scharf. Dankwart schürzte zornig die Lippen. »Das, was eigentlich deine Aufgabe gewesen wäre!« sagte er wütend. »Ich hörte, daß Siegfried zusammen mit Brunhild ausgeritten war, und folgte ihm, ihn zur Rede zu stellen.«
Hagen erschrak. »Und? Hast du es getan?« fragte er. »Nein. Aber ich habe sie gesehen, und das reicht.« »Wieso?« »Sie sind nicht allein«, antwortete Dankwart. »Brunhild und ihre beiden Dienerinnen begleiten ihn. Dazu Giselher und Volker von Alzei. Und seine Reiter.«
»Und?« bohrte Hagen weiter.
Dankwart gestikulierte aufgeregt mit den Händen. »Es sind nur noch elf. Hagen!« rief er. »Verstehst du nicht? Sie waren zu zwölft, als sie in Siegfrieds Begleitung herkamen. Jetzt sind es nur noch elf!«
»Und was schließt du daraus?«
Dankwart starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Begreifst du denn nicht? Es sind nur noch elf, weil wir einen von ihnen erschlagen haben! Der Mann, der uns am Fuße des Isensteines angriff, war einer von Siegfrieds Nibelungenreitern!«
»Ich weiß«, antwortete Hagen. »Ich wußte es von Anfang an.« »Ich auch«, behauptete Dankwart, wenngleich nicht sehr überzeugend. »Aber das spielt keine Rolle. Wichtig ist, daß wir es jetzt beweisen können! So versteh doch endlich! Das ist der Beweis, den wir gebraucht haben. Jetzt können wir Siegfried vor aller Welt anklagen. Und diesmal wird er sich nicht mehr herausreden können! Gunther wird gar keine andere Wahl mehr haben, als ihn davonzujagen!« »Du bist ein Narr, Dankwart«, sagte Hagen ruhig. »Glaubst du wirklich, es fiele Siegfried schwer, eine glaubhafte Erklärung für die Abwesenheit eines seiner Krieger zu finden?«
Dankwart wischte den Einwand mit einer zornigen Bewegung fort. »Lügen!« sagte er. »Natürlich wird er seine Lügen bereit haben, wie immer. Aber du und ich wissen, wie es wirklich war. Gunther wird uns glauben. Und alle anderen auch.«
Hagen schüttelte den Kopf. »Nein, Dankwart«, sagte er bestimmt. »Es wäre sinnlos.« »Du ... du willst nicht...«
»Was ich will, spielt keine Rolle«, unterbrach ihn Hagen. »Geh ruhig zu Gunther und sage ihm, was du gesehen hast, aber es wird nichts nutzen.«
»Soll das heißen, daß du nicht mitkommst?« Dankwart wollte noch etwas hinzufügen, unterließ es dann aber. Seine Augen wurden schmal, während er Hagen von Kopf bis Fuß betrachtete. Bis jetzt war ihm der Aufzug seines Bruders vor Aufregung noch nicht einmal aufgefallen. Sein Blick blieb einen Moment an dem mächtigen Schild an seinem Sattelgurt haften, wanderte zum Schwert und glitt über das Kettenhemd, das unter Hagens Kleid blitzte. »Du bist in Waffen«, stellte er fest »Du ... du willst mit Siegfried...«
»Nein«, sagte Hagen. »Ich will nicht mit Siegfried kämpfen. Aber du hast recht, Dankwart - ich komme nicht mit. Weder jetzt noch später.« »Was soll das heißen?« »Ich verlasse Worms«, antwortete Hagen.
»Verstehe ich recht?« fragte Dankwart. »Jetzt, zwei Tage vor der Hochzeit verläßt du Worms?«
»Du hast recht verstanden«, bestätigte Hagen. »Und es wäre das beste, wenn auch du gehen würdest.« Er deutete zur Burg zurück. »Ich warte hier auf dich, wenn du es wünschst«
Dankwart schluckte. »Du ... du willst... fortlaufen?« murmelte er, unfähig, das Gehörte zu glauben. »Du fliehst vor dem Nibelungen. Du ... du läßt Gunther und Kriemhild im Stich.« Hagen seufzte. »Wenn du es so nennen willst«, sagte er. Dankwart starrte ihn fassungslos an. Hagen lenkte sein Pferd an Dankwarts Tier vorbei, zum Fluß hinunter.
Sein Bruder griff ihm in die Zügel. »Wo willst du hin?« fragte er. Mit einemmal zitterte seine Stimme vor Wut »Fort«, antwortete Hagen einfach. »Fort - wohin?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Hagen. »Einfach nur fort. Irgendwohin. Wenn du mich nicht begleiten willst, dann geh zu Gunther und sag ihm, es täte mir leid.«
»Und das ist alles?«
»Das ist alles«, bestätigte Hagen. »Er wird es verstehen.« »Und Kriemhild? Wird sie es auch verstehen?«
Hagen schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Sie wird es nicht verstehen.« Ohne eine weitere Erklärung löste er die Hand seines Bruders mit sanfter Gewalt vom Zügel, gab dem Pferd die Sporen und sprengte los, ohne noch einmal zurückzublicken.