»Nein!« Brunhild schrie auf, als sollte die Klinge ihr selbst in den Leib gestoßen werden. »Ich flehe Euch an, tut es nicht, Hagen!« Hagens Hand zuckte. Er sah das Entsetzen in Siegfrieds Augen, die Angst, die nur ein Mensch empfinden konnte, der sich für unsterblich gehalten hatte und plötzlich erkennen mußte, daß er es nicht war. Daß er ihm, Hagen, dem Mann, dem sein ganzer Haß galt, auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war. Tu es, flüsterte eine Stimme in ihm. Stoß zu! Eine Bewegung, ein sanfter Druck, und die Klinge würde dieses verhaßte Gesicht spalten, der Alptraum wäre zu Ende, und was hinterher kam, zählte nicht. Wie aus weiter Ferne sah er, wie Brunhild auf ihn zulief, wie sich Gestalten vor der Tür bewegten und Alberich rückwärts in den Raum stolperte, mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht kämpfend, dicht gefolgt von Gunther.
Eine einzige Bewegung, ein winziger Druck seiner Hand... Aber er tat es nicht. Statt dessen richtete er sich auf, zog das Schwert ein kleines Stück zurück und stieß seine eigene Klinge mit dem Fuß unter das Bett. Dann bedeutete er Siegfried mit einer Handbewegung, sich aufzurichten. Die anderen standen wie erstarrt. Der Tumult hatte sich schlagartig gelegt, als jeder für sich begriff, was hier geschehen war und was sich in diesem Moment vor ihren Augen abspielte. Hagen sah sie wie durch einen sich lichtenden Nebel. Brunhild, die Hände noch immer in Abwehr erhoben; Gunther, dem die Ernüchterung und das Erkennen wie ein unauslöschliches Mal ins Gesicht geschrieben waren; Alberichs haßverzerrte Grimasse ...
... und die Angst in Siegfrieds Blick »Ich werde Euch töten, Siegfried«, sagte Hagen mit einer Stimme, so kalt, daß er sie selbst kaum als die seine erkannte. »Ich habe es Euch gesagt vor nicht einmal zwei Tagen. Ist Euer Gedächtnis von so kurzer Dauer?« Siegfried antwortete nicht, sondern starrte noch immer auf die Klinge in Hagens Hand. »Dann tut es!« stieß er endlich hervor. »Nehmt das Schwert und stoßt es mir ins Herz, wenn Ihr nicht den Mut habt, wie ein Mann mit mir zu kämpfen.«
»Hört nicht auf ihn!« krächzte Alberich. »Er will Euch reizen! Erschlagt ihn, solange Ihr im Vorteil seid, Hagen!«
Siegfrieds Kopf fuhr herum. Seine Augen flammten vor Haß, als er auf den Zwerg herabsah. »Du auch!« zischte er. »Hältst du so dein Wort, Zwerg?«
»Erschlagt ihn!« rief Alberich mit zitternder Stimme. Er mußte begriffen haben, daß Hagen Siegfried nicht töten würde, wenigstens jetzt nicht, und im gleichen Moment begriff er auch, was dieses Zögern für ihn bedeuten mußte.
»Warum tut Ihr nicht, was der Zwerg Euch rät, Hagen?« fragte Siegfried. »Noch könnt Ihr es.« Hagen antwortete nicht. Wieder drohte ihm die Wirklichkeit zu entgleiten. Er fühlte sich wie in einem Traum gefangen, einem schrecklichen Alptraum, aus dem er nicht aufzuwachen vermochte, wie sehr er sich auch bemühte.
Schließlich senkte er mit einem Ruck das Schwert und trat zurück »Bringt Eure Kleidung in Ordnung.« Zornig schleuderte er dem Xantener das bestickte Wams hin. »Ihr auch, Brunhild.« Aber anders als Siegfried rührte die Walküre sich nicht, sondern blickte Hagen nur unverwandt an. Weder Haß noch Zorn war in ihrem Blick. Er war unergründlich. Vielleicht war sie wirklich das Urbild aller Frauen, die Erdmutter, aus der alles Leben entsprungen war. Fast konnte er Siegfried verstehen. Wäre es anders gekommen, er wüßte nicht, ob er an Siegfrieds Stelle Brunhilds Verlockung widerstanden hätte. »Warum, Siegfried?« sagte Gunther tonlos. Sein Gesicht ließ keinerlei Regung erkennen. Vielleicht hatte er einen Grad des Entsetzens erreicht, an dem er nicht mehr fähig war, irgend etwas zu empfinden. Natürlich antwortete Siegfried nicht auf seine Frage, und nach einigen Augenblicken wandte sich Gunther um und blickte Brunhild an. »Und du?« fragte er mit der gleichen, ausdruckslosen Stimme, die Hagen schaudern machte. »Beantworte wenigstens du mir meine Frage. Warum? Warum heute? Warum ausgerechnet heute, Brunhild? Warum nicht morgen oder in einer Woche oder einem Jahr? Konntest du nicht einmal diesen einen Tag warten?«
»Weil es diese Nacht sein mußte, mein König«, sagte Hagen leise. »Diese und keine andere. Eure Hochzeitsnacht. Nur sie konnte Siegfrieds Triumph vollkommen machen.« Er sah den Nibelungen an. »Ist es nicht so?« Siegfried verzog nur abfällig die Lippen.
»Antworte!« forderte Gunther. »Ich will es aus deinem Mund hören, Brunhild. Warum heute nacht?«
»Was willst du, Gunther?« fragte Brunhild kalt »Was wirfst du mir vor? Du warst betrunken, und ich habe nichts Unrechtes getan. Ich bin dem Mann versprochen, der mich im ehrlichen Zweikampf besiegt.« Ganz langsam senkte Hagen das Schwert, trat auf die Walküre zu und schlug sie ins Gesicht. Brunhild wich dem Schlag, den sie kommen sah, nicht aus und zuckte mit keiner Wimper, als seine Hand sie traf. »Wenn Ihr das noch einmal tut, Hagen«, sagte Siegfried leise, »töte ich Euch.« Hagen drehte sich zu ihm um, schob den Balmung in seinen Gürtel und blickte Siegfried durchdringend an. Siegfried erwiderte ruhig seinen Blick Allmählich fand er zu seiner alten Überheblichkeit zurück. »Ja«, antwortete er nach einer Weile. Er lachte. »Und nun, alter Mann«, fuhr er in kaltem, verletzendem Ton fort, »sagt, weswegen Ihr zurückgekommen seid. Ihr habt Euren Triumph gehabt, und wenn es das war, was Ihr wolltet, dann gönne ich ihn Euch gern. Aber jetzt gebt mein Schwert heraus, und dann verschwindet. Aus dieser Burg und diesem Land.«»Ihr wißt genau, warum ich zurückgekommen bin, Siegfried«, antwortete Hagen. »Ist Euer Gedächtnis so kurz? Habt Ihr schon vergessen, was ich Euch zweimal gesagt habe, einmal vor einem Jahr und das andere Mal vor weniger als zwei Tagen? Ich habe Euch gesagt, daß ich wiederkomme und Euch töte, wenn Ihr Kriemhild weh tut. Jede Träne Kriemhilds wird mit Eurem Blut vergolten! Ich habe Euch gewarnt, Siegfried, und Ihr habt meine Warnung mißachtet. Jetzt bezahlt Ihr dafür.« »Und wie?« fragte Siegfried spöttisch.
»Ich fordere Euch«, antwortete Hagen ruhig. »Ich fordere Euch heraus. Euer Leben mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Ein ehrlicher Kampf, Mann gegen Mann. Bis zum Tode.«
Siegfried schien erstaunt. Er starrte Hagen an. Dann begann er zu lachen, laut und schallend. »Ein ehrlicher Kampf Mann gegen Mann?« rief er schließlich atemlos. »Das kann nicht sein. Ich gegen Euch - das ist kein ehrlicher Kampf.«
Aber seine Heiterkeit klang nicht ganz echt »Ihr nehmt meine Forderung an?« fragte Hagen steif. Siegfried nickte. »Wann und wo?«
»Morgen früh«, antwortete Hagen. »Bei Sonnenaufgang. Ihr kennt den kleinen Wald, eine Stunde westlich von hier?« Siegfried bejahte.
»Es gibt dort eine Quelle«, fuhr Hagen fort. »Ich werde auf Euch warten. Kommt allein, ohne Eure Nibelungenreiter. Ihr, Gunther« - er wandte sich an Gunther - »werdet jetzt wieder hinuntergehen und Euren Gästen mitteilen, daß Ihr morgen bei Sonnenaufgang eine Jagd abhaltet. Siegfried kann sich so unauffällig von den anderen entfernen.« »Was soll der Unsinn?« fragte Siegfried stirnrunzelnd. »Ich werde dort sein, ohne daß ...«
»Ich will nicht, daß die Sache bekannt wird«, erklärte Hagen ruhig. »Habt Ihr Angst, es könnten zu viele Zuschauer kommen?« fragte Siegfried spöttisch.
»Auch«, bekannte Hagen. »Aber es geht mir um Kriemhild. Ich will nicht, daß sie es erfährt. Wenn Ihr mich tötet, wird niemand wissen, wie es wirklich war. Ich werde einfach nicht wiederkommen. Und wenn ich Euch töte...«