Выбрать главу

Hagen lachte kurz auf. »Sehr viele«, antwortete er, »aber ich habe noch genügend für dich übriggelassen, Giselher. Doch auch davon später.« »Natürlich.« Giselher nickte schuldbewußt. »Du mußt müde sein und hungrig. Ich werde gleich nach Rumold schicken, damit er dir ein Mahl bereiten läßt. Doch zuvor laß uns zu Gunther gehen. Er wird sich freuen, dich wiederzusehen. Die Abende waren lang ohne dich.« Er drehte sich um und winkte ungeduldig, als Hagen ihm nicht schnell genug folgte. »Nicht so rasch«, sagte Hagen halb im Scherz. »Ich bin ein alter Mann und kann nicht mit deinen jungen Beinen mithalten.« Er ging hinter Giselher die Treppe hinauf, trat durch den hohen, gewölbten Eingang der Halle und wurde ernst. »Geh voraus und sage dem König Bescheid«, bat er. »Ich gehe zuerst in meine Kammer und lege frische Kleidung an. Der Staub von sechzig Tagen klebt an meinem Mantel.« Giselher zögerte kurz, nickte dann aber und eilte davon. Hagen sah ihm nach, bis er am anderen Ende der weitläufigen, beinah leeren Halle verschwunden war. Er war allein, die Wachen, die normalerweise beiderseits des Eingangs standen, waren verschwunden - wahrscheinlich hatte ihnen Hunold kurzerhand das Schwert aus der Hand genommen und ihnen statt dessen Kochlöffel und Besen hineingedrückt, damit sie sich in der Küche oder sonstwo nützlich machten und bei den Vorbereitungen für das Fest halfen. Worms war eine mächtige Burg, aber die Feshing war - zumindest in Friedenszeiten wie jetzt - nur schwach besetzt, und es gab kaum einen, der außer dem Waffenrock des Kriegers nicht auch noch einen anderen Rock, etwa den eines Handwerkers, trug. Hagen fror plötzlich; Müdigkeit und Erschöpfung machten sich nun, da die Anspannung vorüber war, mit Macht bemerkbar. Seine Hände zitterten, und für einen Moment schwindelte ihm. Sein Körper - und wohl auch sein Geist - forderten, was er ihnen allzu lange vorenthalten hatte. Mit einer müden Geste strich er sich über die Stirn. Er hatte nicht viel Zeit; Gunther würde ihn sehen wollen, und er war kein geduldiger Mann. Wenn Hagen nicht bald kam, würde ihn der König in seiner Kammer aufsuchen, und das wollte er nicht.

Hagen öffnete eine Tür, ging durch einen niedrigen, nur von einer halb heruntergebrannten Fackel erhellten Gang und stieg mit schweren Schritten die Treppe hinauf. Seine Kammer lag am Ende des nächsten Ganges. Er öffnete die Tür, schob den Riegel hinter sich zu und blieb einen Moment mit geschlossenen Augen stehen. Das Zimmer war dunkel und im Grunde nicht mehr als ein Loch, zwei Schritte breit und doppelt so lang. Die hölzernen Läden waren vorgelegt und hielten das Sonnenlicht und den Tag draußen und die Kälte des Winters drinnen. Die Luft roch abgestanden. Seinem Wunsche gemäß hatte während seiner Abwesenheit niemand den Raum betreten; die Decken und Kleider auf der Bettstatt lagen noch so, wie er selbst sie hingeworfen hatte. Sie waren feucht geworden. Mit einem tiefen Seufzer löste er sich aus seiner Erstarrung und trat zum Fenster. Die Läden quietschten, als er sie öffnete. Die hölzernen Scharniere waren verzogen und mußten erneuert werden. Das Sonnenlicht kam ihm nach der Dunkelheit übermäßig grell vor. Er atmete ein paarmal tief durch, drehte sich um und ging zum Tisch zurück. Auf der Platte lag Staub, und in der silbernen Schale stand noch das Wasser, mit dem er sich am Morgen, vor seinem Aufbruch, das Gesicht gewaschen und die Haare geglättet hatte. Hagen beugte sich darüber, die Hände auf die Tischplatte gestützt, und starrte einen Moment lang sein Spiegelbild an. Was er sah, erschreckte ihn. Das Wasser war trüb und grau und spiegelte sein Gesicht nur verschwommen, undeutlich wider. Er bewegte sich. Die Erschütterung pflanzte sich über die Tischplatte bis in die silberne Schale fort, das Gesicht in dem trüben Spiegel zersprang. Aber für einen Augenblick glaubte er nicht sein lebendes Antlitz zu sehen, sondern den Tod, einen grinsenden, kahlen Totenschädel, der ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte.

Hagen richtete sich mit einem Ruck auf und wandte sich zum Fenster. Vom Hof drangen die Stimmen der Knechte und das harte Klappern der Pferdehufe herauf, jemand lachte, und die eisige Luft schnitt wie ein Messer in seine Kehle. Seine Hände umklammerten die schmale Fensterbrüstung so fest, als wollte er sie zerbrechen.

Sei kein Narr! dachte er. Laß dich nicht von den Worten eines närrischen alten Weibes verwirren! Sein Herz hämmerte, und sein Atem ging schnell. Hagen schüttelte heftig den Kopf und ballte die Fäuste, daß es schmerzte.

Für einen kurzen Moment hatte ihn die Furcht noch einmal eingeholt. Hagen wartete, bis seine Hände aufhörten zu zittern und sich sein Atem beruhigt hatte. Dann trat er an seine eisenbeschlagene Truhe, öffnete sie und nahm frische Kleider heraus. Wenig später war er umgezogen und auf dem Weg nach unten. Sein Gesicht und seine Hände fühlten sich klebrig an. Jetzt, wo er saubere Kleidung trug, empfand er es um so mehr. Aber das abgestandene Wasser in der Schale war ihm zuwider gewesen, und die Knechte nach frischem Wasser zu schicken, dazu blieb keine Zeit.

Die Kleider, die er trug, unterschieden sich nicht sehr von denen, die er unterwegs getragen hatte; wie alle Kleidungsstücke, die er besaß, waren sie schwarz, von einfachem Schnitt und so schlicht, daß sie auf den ersten Blick fast ärmlich wirkten. Aber es waren Rose und Kreuz Burgunds, die jetzt in feiner Silberstickerei die Borte seines Mantels zierten, nicht die Streitaxt Tronjes, und sein Schwert, dasselbe wie immer, stak nun in einer silberbeschlagenen Prachtscheide statt der einfachen, aus Holz und Leder gefertigten Hülle. Das Schwert war die einzige Waffe, die er besaß. In diesem einen Punkt hatte er sich nie der hiesigen Sitte angepaßt: er hielt nichts davon, besondere Waffen für besondere Gelegenheiten zu tragen. Er hatte nur dieses Schwert, und es war eine gute Klinge. Sie hatte ihn den weiten Weg von Tronje an den Rhein begleitet, war zerschrammt und schartig, in unzähligen Schlachten und Kämpfen erprobt, aber niemals zerbrochen und seiner Hand nie entglitten. In den Augen der anderen mochte sie schäbig aussehen, und für die Fäuste der meisten wäre sie zu groß und zu schwer gewesen, so, wie sein Helm eine Spur zu groß schien, um nicht auf Schläfen und Nacken zu drücken und sein Kettenhemd eine Spur zu schwer, um sich mühelos darin zu bewegen. Aber im Gegenteil, und vielleicht war dies eines seiner Geheimnisse: alles, was er tat, schien einen Atemzug schneller, eine Ahnung kraftvoller zu sein als gewöhnlich, sein Denken eine Spur schärfer, seine Schlagfertigkeit und Schlagkraft ein unmerkliches bißchen besser. Gerade genug, um zu siegen. Immer.

Flüchtig dachte er an Grimward und die anderen, während er durch die kühlen, dunklen Gänge zum Thronsaal hinabging. Sechzig Tage lang hatten sie wie Brüder gelebt, aber es war - und das begriff er erst jetzt - eine Verbundenheit ohne Dauer gewesen. Grimward und die anderen waren wieder zu einem Teil der Burg geworden, im gleichen Moment, in dem sie durch das Tor geritten waren; gesichtslose Gestalten in den Waffenröcken Burgunds, deren Namen man nicht wußte und auch nicht zu wissen brauchte. Und wahrscheinlich wäre es ihnen nicht einmal recht gewesen, wenn er versucht hätte, an das dünne Band der Freundschaft anzuknüpfen, das sie für kurze Zeit verbunden hatte. Hagen verscheuchte den Gedanken und ging schneller.

Gunther erwartete ihn im Thronsaal. Er war nicht allein. Giselher war bei ihm, und an der langen Tafel saßen Ekkewart und Volker von Alzei und redeten leise miteinander, sprangen jedoch bei Hagens Eintreten auf und kamen ihm entgegen. Ekkewart umarmte ihn, fast so stürmisch wie zuvor Giselher, während der Spielmann nach seiner Hand griff und sie drückte, so fest, als wollte er sie ihm brechen. »Wie schön, dich gesund und bei Kräften wieder in Worms zu sehen, Hagen von Tronje«, sagte Volker. »Du warst lange fort. Ich hoffe, du hast auf deiner Reise viele Abenteuer erlebt und wirst uns viele Geschichten erzählen, die ich dir ablauschen und in meinen Liedern verwenden kann.« Für Volker von Alzei war dies eine ungewöhnlich lange Rede. Von allen bei Hofe war Volker wohl der Schweigsamste, wenn er nicht gerade sang und dazu die Laute schlug. Dann sprudelten die Worte aus ihm heraus, manchmal ganze Nächte lang. Wenn er nicht sang, redete er kaum, sondern sparte sich seinen Atem auf.