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Er wußte nicht mehr, was in seinem Kopf vorgegangen war an diesem Nachmittag. Lange nach Sonnenuntergang klopfte wieder jemand an seine Tür. Hagen antwortete nicht, aber der Besucher blieb hartnäckig. Hagen erkannte Gunthers Stimme durch die Tür, ohne die Worte zu verstehen. Ihr Ton war fordernd und zugleich besorgt. Ein Rest Vernunft sagte ihm, daß er sich nicht für immer in dieser Kammer einschließen konnte. Und Gunther mußte zudem einen Grund haben, ihn zu stören, nachdem er ihn zuerst so gründlich vor allen anderen abgeschirmt hatte. Er stand auf, ging zur Tür, zog den Riegel zurück und trat beiseite, als Gunther eintrat Gunther ging geradewegs zum Fenster, um die Läden herunterzunehmen. Obgleich inzwischen Abend war, wurde es heller in der Kammer, denn die Burg war von unzähligen Fackeln beleuchtet, und flackernder Feuerschein zuckte über die Decke und die Wände. »Wie geht es dir?« fragte Gunther. Seine Stimme zitterte leicht, und Hagen spürte, daß die Frage mehr als nur eine leere Redensart war. »Warum fragst du?«

Gunther warf einen besorgten Blick zur Tür, als fürchtete er, belauscht zu werden. »Du mußt fort, Hagen. Wie schlimm sind deine Wunden? Wirst du reiten können?« »Fort?« fragte Hagen. »Warum?«

»Du bist hier nicht mehr sicher«, erklärte Gunther. »Ich fürchte um dein Leben, wenn du bleibst. Kriemhild hat mitgeholfen, Siegfried zu waschen und aufzubahren. Sie hat die Wunde gesehen. In seinem Rücken, Hagen.«»Was habt Ihr erwartet?« fragte Hagen kalt. »Sie ist nicht blind.« »Sie hat geschrien, daß das ganze Haus zusammengelaufen ist. Inzwischen weiß es jeder in der Burg«, sagte Gunther. Seine Augen flackerten. »Und Brunhild?« fragte Hagen ungerührt.

Gunther zögerte mit der Antwort. »Sie war... sehr ruhig. Nicht einmal sehr überrascht...«

Er begann unruhig in der kleinen Kammer auf und ab zu gehen. »Du mußt fort, Hagen«, sagte er noch einmal. »Brunhild hat irgend etwas vor, das spüre ich. Sie hält dich für Siegfrieds Mörder.« »Genau das sollte sie auch«, sagte Hagen.

»Genau das sollte sie nicht!« antwortete Gunther aufgebracht. »Für den Mann, der Siegfried von Xanten erschlug, meinetwegen. Aber nicht für seinen Mörderi«

»Welchen Unterschied macht das schon?« murmelte Hagen. »Und warum sollte ich fliehen? Um meine Schuld damit noch deutlicher einzugestehen?«

»Ich traue Brunhild nicht«, sagte Gunther. Er war erregt, wütend. »Bei Gott, Hagen, begreifst du denn nicht, daß ich dich schützen will? Nimm Vernunft an und fliehe aus Worms! Vor dem Tor steht das schnellste Pferd bereit, das ich habe, und Verpflegung für einige Tage. Die Krieger dort draußen vor der Tür werden dich und deinen Bruder ungesehen aus der Burg bringen. Ihr könnt einen halben Tagesritt weit weg sein, ehe euer Verschwinden bemerkt wird.«

»Unsinn«, sagte Hagen. »Warum sollte ich fliehen? Ich fürchte Brunhild nicht«

»Das solltest du aber«, sagte Gunther düster. »Und wenn schon nicht sie, dann Siegfrieds Nibelungenreiter. Oder die dreißig Männer, die Siegmund von Xanten begleiten.«

»Ist Eure Macht so gering, daß Ihr mich nicht einmal vor Euren Gästen beschützen könnt, mein König?« fragte Hagen kalt. »Oder vor Eurem eigenen Weib?«

»Natürlich nicht«, antwortete Gunther unwillig. Er schien den verletzenden Klang von Hagens Worten nicht einmal bemerkt zu haben. »Aber ich weiß nicht, was heute nacht geschieht Es sind mehr Fremde in Worms als je zuvor. Auf jeden meiner Männer kommen drei, die Siegfried verbunden waren. Noch hält sie die Ehrfurcht vor meiner Krone« - er zögerte einen Moment und verbesserte sich - »oder vielmehr die Furcht vor den Schwertern meiner Krieger zurück. Aber ich weiß nicht, was geschieht, wenn sie Siegfrieds Scheiterhaufen brennen sehen.« »Seinen Scheiterhaufen?« fragte Hagen ungläubig. Gunther nickte. »Sie verbrennen ihn, heute nacht, unten im Burghof.« »Aber Siegfried von Xanten ist Christ!« widersprach Hagen heftig. »Er ist getauft!«

»Wie ich!« sagte Gunther heftig. Zur Erklärung fügte er hinzu: »Es war Brunhilds Wunsch, Siegfried auf diese Art unserer Väter zu bestatten, und Kriemhild hat sich ihm nicht widersetzt. Was, glaubst du wohl, wird geschehen, wenn sie Siegfried brennen sehen, und Brunhild mit dem Finger auf dich zeigt und ruft: ›Dort steht Siegfrieds Mörder‹? Sie werden dich in Stücke reißen.«

»Ihr könnt es verbieten«, sagte Hagen. »Es ist eine heidnische Zeremonie. Geht zu Eurem Bischof, der Siegfried getraut hat« Gunther schnaubte. »Er würde gleich mit auf dem Scheiterhaufen landen, würde er Einspruch erheben«, sagte er. »Ich meine es ernst, Hagen. In einer Stunde wird Kriemhild das Feuer entzünden, und wenn du dann noch hier bist, wird der Brand auf ganz Worms übergreifen. Brunhild plant etwas, und es würde mich nicht wundern, gälte es dir.« »Ich bleibe«, sagte Hagen ruhig. »Geht jetzt, Gunther. Geht zu Brunhild und sagt ihr, daß ich dasein werde, wenn sie Siegfried zu Grabe tragen.« »Du... du bist verrückt«, stammelte Gunther.

»Und geht auch zu meinem Bruder und Ortwein und zu allen Euren Männern, die Siegfried gehaßt haben«, fuhr Hagen fort, »und schärft ihnen folgendes ein: Was immer heute nacht geschehen wird, es ist mein ausdrücklicher Wille, daß niemand sich einzumischen hat. Niemand, versteht Ihr?« »Diesen Wunsch werden nicht alle respektieren«, wandte Gunther ein, aber Hagen unterbrach ihn. »Ich sagte nicht, daß es mein Wunsch ist. Gunther von Burgund, sondern mein Wille. Ich befehle es.« Es dauerte einen Moment, bis Gunther begriff. Er wurde blaß. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ die Kammer. Hagen hörte ihn einen scharfen Befehl rufen, dann drang noch einmal das Geräusch harter Schritte durch die Tür, als auch die Wache, die seinen Schlaf behütet hatte, abzog. Er war sehr ruhig, als er den Riegel vorlegte, zu seinem Bett zurückging und sich zu entkleiden begann. Die Kälte machte sich unangenehm bemerkbar. Die zahllosen kleinen und größeren Wunden, die er am Morgen davongetragen hatte, schmerzten; einige davon brachen auf und bluteten. Hagen öffnete die Truhe mit seinen wenigen Habseligkeiten und nahm ein kleines, sorgsam in ein Tuch eingewickeltes Bündel hervor. Mit großem Bedacht begann er, jede einzelne seiner Wunden zu reinigen und zu verbinden. Er brauchte lange dazu, und mehr als einmal mußte er innehalten und warten, bis die Schmerzen abgeklungen waren und seine Finger aufhörten zu zittern. Zum Abschluß wusch er sich, so gut es seine verbundenen Arme zuließen. Dann ging er abermals zu seiner Truhe und begann sich anzukleiden.

Er wählte das gleiche Gewand, mit dem er hergekommen war: den einfachen, braunroten Rock eines Kriegers, dazu einen schmucklosen Waffengurt und den zerschrammten, schon vor einem halben Menschenleben unansehnlich gewordenen Schild; keines von den prachtvoll bestickten Kleidern, die ihm Gunther hatte bereitlegen lassen. Nur das Schwert, das in seinem Gürtel blitzte, war jetzt ein anderes. Es war der Balmung. Schließlich streifte er bedächtig die schwarze Augenklappe über und setzte den Helm auf. Er war ganz ruhig. Es war das altbekannte Gefühl, in einen Kampf zu ziehen, wenngleich er wußte, daß es diesmal - sollte er gezwungen sein, das Dämonenschwert aus seinem Gürtel zu ziehen - sein unwiderruflich letzter Kampf sein würde. Er war verletzt und viel zu schwach, es mit Brunhilds Walkürenkriegerinnen aufzunehmen, geschweige denn mit ihr selbst Oder mit Siegfrieds Nibelungen. Der Gang war leer, als er die Kammer verließ und sich auf den Weg nach unten machte. Als er die Treppe erreichte, vertrat ihm ein Schatten den Weg. Mattes Gold blitzte. Hagen legte die Hand auf das Schwert an seiner Seite, als er eine von Brunhilds Walkürenkriegerinnen vermutete. Dann sah er, daß er sich täuschte und es die Walküre selbst war, gerüstet und gewappnet. So wie damals, dachte er, als sie gegen Siegfried antrat »Meine Königin«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. Brunhild sah ihm ruhig entgegen. Im schwachen Licht des Ganges war ihr Gesicht nur undeutlich zu erkennen.