Hagens Unruhe wuchs. Erst jetzt fiel ihm auf, daß die beiden Reiter an den Flanken ihre Schilde auswärts trugen, als wäre einer von ihnen, der rechte, Linkshänder, und daß ihre Speere griffbereit in den Steigbügeln steckten. Und das war gewiß kein Zufall. Jetzt, als er auf diese Einzelheit aufmerksam geworden war, fielen ihm noch mehr Dinge auf, denen ein anderer vielleicht keine Beachtung geschenkt hätte. Die Haltung der Reiter wirkte entspannt Aber nur auf den ersten Blick. Ihre Hände lagen um die Schäfte der Speere oder nur eine Handbreit neben den Schwertgriffen, und obwohl Hagen ihre Gesichter nicht erkennen konnte, war er sicher, daß ihren Blicken nicht das geringste entging. Sie sind kampfbereit! dachte er erschrocken. Er wußte nicht, weswegen diese Männer gekommen waren, aber sie würden, falls es ihnen verweigert würde, nicht tatenlos abziehen. »Nun, Hagen?« fragte Gunther endlich, seine Stimme zitterte vor Ungeduld. »Ist er es oder nicht?« Hagen beugte sich noch weiter vor, stützte die Hände auf der breiten Fensterbrüstung ab und musterte den von je sechs Reitern flankierten Mann in der Mitte. Er war groß und so breitschultrig, daß er das bestickte braune Lederwams und den flammendroten Umhang fast zu sprengen schien. Als einziger von allen trug er keinen Helm, so daß man sein schulterlanges, leicht gewelltes blondes Haar sehen konnte. Der Schild, den er - ebenfalls als einziger - nicht am Arm trug, sondern am Sattelgurt befestigt hatte, war weiß, das Wappen darauf rot und von einer verschlungenen, an einen Drachenkopf erinnernden Form. An seiner Seite hing ein gewaltiges, zweischneidig geschliffenes Schwert Hätte Hagen noch Zweifel gehabt, sie wären spätestens beim Anblick dieser Waffe zerstreut worden. Er hatte dieses Schwert noch nie gesehen, sowenig wie seinen Träger, aber er hatte davon gehört. Jedermann hatte von Balmung, dem sagenhaften Schwert der Nibelungen, gehört »Ich denke, er ist es«, murmelte Hagen. »Nur ein Narr könnte sich für Siegfried von Xanten ausgeben, ohne es zu sein.« Gunther war bleich geworden. »Aber was mag er wollen?« fragte er bang. Hagen zuckte mit den Achseln. »Gehen wir hinunter und fragen wir ihn.«
Schnell, aber ohne übertriebene Hast verließen sie den Thronsaal und traten auf die Balustrade hinaus. Hagen blinzelte in das grelle licht der Morgensonne. Die Gestalten der dreizehn Reiter waren zu schattenhaften Umrissen verschmolzen, die drohend vor ihnen aufragten. Hagen widerstand dem Drang, sein Schwert zu ergreifen. Es war ein Fehler gewesen, den Reitern Einlaß in die Burg zu gewähren. Vor geschlossenen Toren hätte selbst die hundertfache Zahl keine ernstzunehmende Gefahr bedeutet. Hier drinnen konnten diese dreizehn Recken zu einer Bedrohung werden.
Und Recken waren es wahrlich! Wenn Hagen jemals eine Schar Männer gesehen hatte, auf die diese Bezeichnung zutraf, dann sie. Keiner von ihnen war kleiner als Ortwein, der in Worms schon fast als Riese galt, und selbst auf den Rücken ihrer gewaltigen Schlachtrösser wirkten sie beeindruckend groß. Endlich erwachte Gunther aus seiner Erstarrung. Er gab sich einen Ruck und ging mit schnellen Schritten die Treppe hinab. Wenige Schritte vor Siegfried blieb er stehen. Der Xantener musterte ihn von der Höhe seines Sattels aus, blieb aber unbewegt wie bisher.
Ein paar der Knechte, die die Reiter in respektvollem Abstand umstanden, begannen zu murren, verstummten aber sofort, als Gunther einen strengen Blick in die Runde warf. Hagen verstand die Knechte, denn Siegfrieds Benehmen verstieß gegen die gute Sitte. Es war mehr als nur unhöflich, im Sattel zu bleiben, während der König der Burgunder vor ihm stand und zu ihm aufblicken mußte. Schließlich, nach einer Ewigkeit, in der sich ihre Blicke stumm gekreuzt hatten, schwang sich der blonde Hüne gelassen aus dem Sattel, löste den Schild vom Sattelgurt, ging auf Gunther zu und blieb zwei Schritte vor ihm stehen. Sein Schild berührte mit einem hellen Klirren den Boden. Er lächelte, deutete ein Kopfnicken an und stützte sich lässig auf den Schild. Hagen, der Gunther gefolgt war, hatte sich etwas abseits gestellt, so daß er wie zufällig in Siegfrieds Rücken war. Er spürte, wie sich die Männer hinter ihm spannten. Die Atmosphäre auf dem Hof hatte sich von einem Augenblick zum anderen geändert: wo vorher neugierige Erwartung gewesen war, knisterte plötzlich Spannung und schwebte unverhohlene Furcht über den Köpfen der Menge.
Endlich brach Gunther das Schweigen. »Siegfried von Xanten?« begann er, nicht eben sehr geschickt. »Nach allem, was mir über diesen Helden zu Ohren gekommen ist, könnt Ihr kein anderer sein...« Gunther wartete auf Antwort, aber da Siegfried schwieg, ihn nur weiter stumm ansah, fuhr Gunther nach einer Weile noch steifer fort: »Sagt an, edler Herr, was führt Euch in unser Reich und unsere Stadt?«
Hagen wußte im ersten Moment nicht, ob er vor Schreck den Atem anhalten oder in schallendes Gelächter ausbrechen sollte. Gunthers Worte klangen geradezu lächerlich und beschämend und spiegelten nur zu deutlich seine Unsicherheit wider. So sprach kein König, auch nicht zu einem Mann, der selbst ein König war. Und schon gar nicht, dachte Hagen finster, wenn dieser waffenklirrend durch ein Burgtor ritt, das er in Gastfreundschaft offen fand. Außer vielleicht, dieser hieß Siegfried von Xanten. Siegfrieds Lächeln verschwand. Seine Hände spannten sich so fest um den Schildrand, als wollte er ihn zerbrechen. »Das will ich Euch sagen, König Gunther«, antwortete er, und seine Stimme klang kalt »Die Kunde von Eurem Ruhm und Eurer Tapferkeit ist weit über die Grenzen Burgunds hinausgedrungen, ebenso wie die vom Mute Eurer Recken. Man sagt, daß es an den Ufern des Rheins und der Donau keinen zweiten König gibt, der so viele edle Ritter und tapfere Kämpfer um sich geschart hat wie Ihr.«
»Seid Ihr gekommen, um Schmeicheleien auszutauschen?« fragte Hagen. Seine Einmischung war eine glatte Frechheit. Wo Könige redeten, hatte ein Waffenmeister zu schweigen, auch wenn er Hagen von Tronje hieß.
Siegfried lachte leise, drehte sich aber nicht zu Hagen um, sondern hielt den Blick unverwandt auf Gunther gerichtet »Der Mann, der da glaubt, unbemerkt in meinen Rücken zu gelangen, muß Hagen von Tronje sein«, sagte er spöttisch. »Ich habe viel von Euch gehört, Hagen, aber daß Ihr dem Feind in den Rücken fällt, gehört nicht dazu.« »Sind wir das denn?« fragte Hagen. »Feinde?«
Siegfried lächelte. Hagen fühlte eine Welle heißen Zornes in sich aufsteigen. Er verspürte den Wunsch, Siegfried an den Schultern zu packen, ihn zu sich herumzudrehen und für seine Unverschämtheit ins Gesicht zu schlagen.
»Genug«, sagte Gunther scharf. »Haltet Euch zurück, Hagen. Und Euch, Siegfried von Xanten, wiederhole ich meine Frage: Was führt Euch aus Xanten hierher nach Worms? Kommt Ihr als Freund, und benötigt Ihr ein Lager und Speise, so seid unser Gast. Kommt Ihr aus einem anderen Grund, so stellt Eure Forderung - oder geht in Frieden.« Siegfried spannt sich. Seine rechte Hand lag einen Moment auf dem prachtvoll verzierten Griff des Balmung, der aus seinem Gürtel ragte. Dann, rasch - aber doch nicht so rasch, daß die Bewegung einen von Gunthers Gefolgsleuten zu einer Unbedachtsamkeit hätte reizen können - zog er die Klinge aus der Scheide und hielt sie vor sich ins Licht.
Die Geste war genau berechnet: die Waffe war gewaltig, selbst in Siegfrieds riesigen Pranken wirkte sie noch groß, und ihre doppelte Schneide mußte scharf genug sein, ein Haar zu spalten. Der Griff war der Form seiner Hand angepaßt, als hätte er das rotglühende Eisen mit der Faust umfaßt, um ihn zu formen, und auf der schlanken Klinge erkannte Hagen feine Linien und Muster. Selbst von seinem ungünstigen Platz in Siegfrieds Rücken konnte er erkennen, wie gut ausgewogen die Waffe war. Vermutlich spürte ihr Besitzer ihr Gewicht kaum. Siegfried hob die Waffe mit beiden Händen hoch über den Kopf. Wieder hatte Hagen das Gefühl, eine genau einstudierte Szene zu verfolgen. Der silberne Stahl flammte unter den schräg einfallenden Strahlen der Morgensonne wie ein gefangener Lichtstrahclass="underline" eine in Metall gegossene Herausforderung, vor der Gunther unwillkürlich ein Stück zurückwich. »Ich bin gekommen, mich mit Euch zu messen, König Gunther«, sagte Siegfried. Er sprach nur wenig lauter als zuvor, aber in seiner Stimme war jetzt ein schneidender, durchdringender Ton, so scharf wie Balmungs Klinge.