Es war Siegfried. Er hatte sein rotgoldenes Prachtgewand abgelegt und trug jetzt einen einfachen braunen Kittel, der um die Taille von einem schmalen Silbergürtel gehalten wurde und seine Schultern und die mächtigen, muskelbepackten Oberarme freiließ; ein Kleidungsstück von nur scheinbarer Schlichtheit, dachte Hagen, das seine beabsichtigte Wirkung nicht verfehlte.
Siegfried schien überrascht, die Frauen hier zu sehen, und zauberte ein strahlendes, breites und offenes Lächeln auf seine Züge. Er nickte Hagen und Volker flüchtig zu und verbeugte sich in Utes und Kriemhilds Richtung.
Kriemhild stand wie vom Donner gerührt. Sie starrte den blonden Hünen an, und in ihre Augen trat ein Leuchten, das Hagen noch nie in ihnen gesehen hatte. Siegfried erwiderte ihren Blick Für die Dauer von zwei, drei Atemzügen ruhten die Blicke des Königssohnes aus den Niederlanden und der Schwester der Burgunderkönige ineinander. Keiner von ihnen sprach ein Wort oder rührte sich. Und plötzlich begriff Hagen, warum Siegfried von Xanten nach Worms gekommen war... Ute räusperte sich. Ihre Tochter fuhr zusammen, als wäre ihr urplötzlich eingefallen, wo sie war, befestigte mit einer raschen Geste den dünnen grauen Seidenschleier vor ihrem Gesicht und senkte züchtig den Kopf. Auch Siegfried senkte den Blick.
»Verzeiht«, sagte er, ohne Kriemhild oder ihre Mutter direkt anzusehen. »Ich wußte nicht...«
»Wir sind es, die uns entschuldigen müssen«, unterbrach ihn Ute. Ihre Stimme verriet, wie unangenehm ihr die Situation war. Sie warf einen Blick zu Hagen hinüber, ehe sie sich wieder an den Xantener wandte: »Wir hätten nicht hierherkommen und so tun sollen, als wären wir allein, Siegfried von Xanten. Verzeiht, wenn wir Euch in Verlegenheit gebracht haben.« Sie lächelte entschuldigend. »Komm, Kriemhild«, forderte sie ihre Tochter auf, »es ist schon spät, und bis zum Abend ist noch viel zu tun.« Kriemhild nickte, raffte hastig ihre Röcke zusammen und folgte ihrer Mutter gehorsam zum Ausgang. Siegfried trat mit einer angedeuteten Verbeugung zurück. Erst als Ute und Kriemhild den Saal verlassen hatten, sah er auf.
»Was führt Euch her, Siegfried von Xanten?« fragte Hagen schroff. »Wenn Ihr den König sucht, dann werdet Ihr Euch bis zum Abend gedulden müssen.«
»Es ist... nichts«, antwortete Siegfried ausweichend. Hagen spürte, daß er nach einer Ausrede suchte, um möglichst schnell wieder gehen zu können. »Ich... fand keine Ruhe«, sagte er, »und bin nur ziellos ein wenig herumgegangen.«
Er log. Seine Schritte hatten nicht wie die eines Menschen geklungen, der nur ein wenig »ziellos herumging«. Aber Hagen schwieg dazu. Gunther hatte keinen Zweifel darüber gelassen, daß er Freundschaft - oder wenigstens schweigende Zurückhaltung - zwischen Siegfried und Hagen wünschte.
»Ich glaube, ich werde mich draußen auf dem Hof ein wenig umsehen«, sagte Siegfried. »Worms ist eine gewaltige Burg.« Er schien auf eine Antwort zu warten, aber Hagen blieb sie ihm schuldig. Siegfried drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort.
Auch Hagen wollte gehen, aber Volker von Alzei packte ihn am Arm und hielt ihn zornig zurück. Kriemhild schien nicht die einzige zu sein, der Hagen den Spaß verdorben hatte.
»Was ist in Euch gefahren, Hagen?« zischte er. »Ihr haßt Siegfried, und Ihr behandelt ihn wie ...«»Ich behandle ihn, wie er es verdient.« Hagen riß wütend seinen Arm los. »Und wenn ich etwas hasse, dann ist es das dumme Geschwätz, das ich anhören mußte. Siegfried der Drachentöter. Der Herr des Nibelungenhortes!« äffte er Volkers Worte nach.
»Dummes Geschwätz?« Volker starrte ihn verständnislos an. »Es war Eure Geschichte, Hagen«, erinnerte er ihn. »Es ist noch nicht lange her, da habe ich sie von Euch gehört...«
»Unsinn«, schnappte Hagen. Er war nicht wirklich wütend auf Volker. Siegfried allein war es, dem sein Zorn galt. Aber wenn es auch zu spät war, den Schaden, der bereits angerichtet worden war, zu beheben, wollte er wenigstens verhindern, daß der Spielmann mit seiner Schwatzhaftigkeit noch größeren Schaden anrichtete. »Ihr wißt ganz genau, was ich meine«, fuhr er fort. »Man singt keine Heldenlieder, wenn der Held zufällig da ist und dem Weibervolk den Kopf verdreht.« Volker schien verwirrt. »Ich...«
»Um Himmels willen, Volker«, seufzte Hagen. »Seid Ihr denn blind? Seht Ihr denn nicht, daß dieses Kind in Liebe zu Siegfried entbrannt und kaum noch eines klaren Gedankens fähig ist?«
Volker lachte, aber es klang gezwungen. »Ihr übertreibt, Tronjer«, behauptete er. »Es ist kein Mädchen und kaum eine Frau in Worms, die nicht für Siegfried von Xanten schwärmt. Geht nur einmal hinunter in die Küche und hört Euch das Gekicher der Mägde an. Man könnte meinen, sie hätten in ihrem Leben noch keinen Mann gesehen.« »Kriemhild ist keine Magd, und dieser Saal ist nicht die Küche«, sagte Hagen. Der zornige Ton war aus seiner Stimme gewichen, dennoch spürte Volker, daß ihm die Sache bitter ernst war. »Begreift doch, Volker - sie ist die Schwester des Königs, nicht irgendein Mädchen. Und sie ist verliebt in diesen jungen Raufbold. Wenn ich je ein Mädchen gesehen habe, dessen Herz in Liebe entbrannt ist, dann sie.« Volker zuckte leicht mit den Achseln. »Und wenn schon«, murmelte er. »Sie ist ein Kind, Hagen. Was sie für Liebe hält, wird so schnell erlöschen, wie es gekommen ist.«
»Vielleicht nicht schnell genug«, sagte Hagen, mehr zu sich selbst als zu dem Spielmann. Und er dachte, um wieviel einfacher es doch war, ein Königreich zu heiraten, als es mit dem Schwert zu erobern.
5
Auf dem Weg zu Gunthers Gelaß begegnete ihm niemand mehr, obwohl die Gänge und Treppen der Burg von geschäftigen Schritten und Stimmen widerhallten. Rumolds laute Stimme drang nahezu überall hin, und Hagen konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als er ihn brüllen und toben hörte. Wer den grauhaarigen, untersetzten Rumold auf dem Schlachtfeld erlebte, hätte niemals geglaubt, daß er sich mit der gleichen Begeisterung dem Zubereiten von Speisen und dem Ersinnen neuer, raffinierter Rezepte widmen könnte. Die Scherzfrage, wessen Tod für Worms ein größerer Verlust wäre - Hagens oder Rumolds -, war unter den Bewohnern der Stadt oft gestellt, aber nie geklärt worden. Hagens Blick wanderte in alle dunklen Winkel und Nischen, als er die Vorhalle durchquerte. Aber natürlich war Alberich nicht mehr da, und Hagen war versucht, die Begegnung mit dem Zwerg in das Reich der Einbildung zu verweisen.
Er verharrte einen Moment zögernd vor Gunthers Tür, klopfte dann und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, ein. Er kam äußerst selten hierher; so wie er in der Abgeschiedenheit seines Gelasses nicht gestört werden wollte, setzte er diesen Wunsch auch bei Gunther und den anderen voraus und respektierte ihn.
Gunther war allein. Er saß, die Arme auf den geschnitzten Stützen seines Stuhles, den Kopf zurückgelehnt, und blickte mit weit offenen Augen aus dem Fenster. Aber sein Blick war leer, und für einen Moment, während Hagen dastand und ihn beobachtete, wirkte sein Gesicht alt und eingefallen. Hagen betrachtete ihn schweigend, und ein tiefes, warmes Gefühl der Freundschaft und der Liebe wallte in ihm auf. Er hatte Gunthers Vater an dessen Sterbebett das Versprechen gegeben, seinem Sohn zur Seite zu stehen und ihm zu helfen, die Last seines Erbes zu tragen. Doch in den elf Jahren, die seither vergangen waren, war mehr daraus geworden; eine Freundschaft, die viel tiefer war, als selbst Gunther ahnte. Obwohl Hagen nur ein Jahrzehnt älter als der König der Burgunder war und fast sein Bruder hätte sein können, liebte er ihn wie einen Sohn. Gunther hatte ihn oft gefragt, warum er als sein Waffenmeister hier in Worms blieb, wo er zu Hause in Tronje selbst Herrscher über Burg und Land und Leute sein konnte. Er hatte geantwortet, daß es in Tronje kalt und sein Reich klein und arm und ein Reich der Dunkelheit und der endlosen Nächte sei, ein Reich, das nichts hatte, um Eroberer und Feinde anzulocken, und somit auch keines Beschützers bedurfte; daß er alt war und die Wärme und die friedlichen, langen Sommer Burgunds den eisigen Monaten in Tronje vorzog, und daß es dort in Tronje für einen Mann wie ihn nichts zu erleben gäbe außer der Jagd auf Wölfe oder Polarfüchse, und alle diese Gründe waren - jeder für sich - wahr und glaubhaft genug, um zu erklären, warum er bereit war, die Krone Tronjes gegen den Rock des Waffenmeisters von Worms zu tauschen. Und doch gab es noch einen Grund, und dieser Grund war Gunther selbst Er war ein tapferer und furchtloser Kämpfer, und gleichzeitig war er auch wieder schwach, ein Mann, der der Rolle, in die er ungefragt hineingeboren worden war, nicht gewachsen war. Er gehörte nicht auf diesen Thron, und die Krone paßte nicht auf seinen Kopf, auch wenn er die Geschicke des Reiches mit weiser und umsichtiger Hand leitete. Er hatte es nie ausgesprochen, aber Hagen wußte, daß er das Schicksal schon tausendmal verflucht hatte, das ihn als Erstgeborenen auf den Thron gesetzt hatte.