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»Freund Hagen«, sagte Gunther. »Du ruhst nicht aus für das Fest heute abend?«

Hagen brachte es nicht übers Herz, Gunther den Grund seines Kommens zu sagen. Nicht jetzt. »Nein«, sagte er einfach.

Gunther nickte. »Ich habe dich erwartet, Hagen.« Er stand auf, ging zur Tafel hinüber und griff nach einem halbvollen Becher mit Wein, trank aber nicht. »Dich und deine Warnungen.« Er lächelte. »Du warst sehr still vorhin, als wir mit Siegfried unten saßen.« Er wies auf die Tafel; Hagen nickte und schenkte sich ebenfalls einen Becher Wein ein. Mehr als zwei Stunden hatten sie zusammen mit dem Xantener gesessen und geredet - ohne allerdings mehr als oberflächlich Freundlichkeiten auszutauschen -, doch Hagen selbst hatte während der ganzen Zeit keine zehn Worte gesprochen. Er hatte seinem Ruf als schweigsamer Mann alle Ehre gemacht, und sein Schweigen war auch niemandem aufgefallen; niemandem außer Gunther. »Was willst du hören?« fragte er. Gunther sah ihn ernst an. »Die Wahrheit«

»Was heißt das, Wahrheit? Ist es das, was wir dafür halten? Oder das, was wir hören wollen?« Gunther machte eine ärgerliche Bewegung mit der Hand, die den Becher hielt Ein Tropfen Wein schwappte über den Rand und hinterließ einen kleinen runden Fleck wie Blut auf seinem Ärmel. Gunther merkte es nicht »Du bist ein seltsamer Mann, Hagen«, sagte er. »Du bringst es fertig eine Woche lang kein Wort zu reden, und wenn du dann sprichst, sprichst du in Rätseln.« Er setzte den Becher ab. »Du weißt, was ich meine. Was hältst du von ihm?« »Siegfried?« Gunther nickte.

»Fragst du als Freund oder als König?« »Macht das einen Unterschied?«

Hagen nickte, und Gunther zögerte mit der Antwort »Nimm an, als dein König.«

»Dann rate ich dir«, antwortete Hagen, »ihn und die Seinen in allen Ehren zu behandeln und ihm Gastfreundschaft zu gewähren, solange er bleibt. Aber sorge dafür, daß es nicht zu lange dauert.« Gunther nickte, als hätte er nichts anderes erwartet »Und als Freund?« Diesmal zögerte Hagen. »Töte ihn«, sagte er.

Gunther war nicht einmal überrascht. »Du... fürchtest ihn, nicht?« fragte er.

Wieder zögerte Hagen. »Ja«, sagte er dann. »Doch nicht so, wie du glaubst. Gib mir den Befehl, und ich ziehe mein Schwert und töte ihn.« »Den Unbesiegbaren?« lächelte Gunther.

Hagen antwortete nicht darauf. Sie wußten beide, was von Siegfrieds Unverwundbarkeit zu halten war. »Warum?«

Hagen hielt seinem Blick stand. »Weil er gefährlich ist«, antwortete er ruhig. »Seine Anwesenheit könnte großen Ärger für uns alle bedeuten. Vielleicht sogar unseren Untergang.«

»Übertreibst du jetzt nicht? Ich gebe ja zu, er kam auf...« er lächelte, »... ungewöhnliche Weise zu uns, aber ich glaube nicht, daß er jetzt noch nach Eroberung und Kampf dürstet.«

»Ich spreche nicht von Eroberung.« Hagen nippte an seinem Wein und stellte den Becher ab, ohne mehr als die Lippen benetzt zu haben. »Ich glaube nicht einmal, daß er mit der Absicht nach Worms kam, es mit dem Schwert zu erobern.« »Was hast du dann gegen ihn?«»Ich habe nichts gegen Siegfried«, antwortete Hagen, und Gunther sah ihn verwundert an. »Allmählich beginne ich mich zu fragen, warum jeder hier wie selbstverständlich anzunehmen scheint, daß ich Siegfried hasse. Ich mag ihn nicht, doch das besagt nichts. Siegfried ist ein Abenteurer, und ich kenne Männer wie ihn zur Genüge. Sie ziehen das Unglück und den Streit an wie der Honigtopf die Bienen.« »Ein hartes Urteil.«

»Ein wahres. Du wolltest meinen Rat als Freund. Als dein Freund und als der Burgunds. Verfolge den Weg, den Siegfried gegangen ist, und du wirst ihn mit Toten gesäumt finden.«

»Aber was will er dann bei uns?« fragte Gunther. »Zwischen Xanten und Worms herrscht Frieden, und wenn er einen Krieg wollte...« Er schüttelte den Kopf. »Er hätte es nicht dummer anstellen können. Und es wäre ein sinnloses Unterfangen. Xanten ist eine reiche und mächtige Stadt, aber einen Krieg gegen Worms? Wir hätten Xanten in einer Woche dem Erdboden gleichgemacht. König Siegmund weiß das.« Er seufzte, sah sich unschlüssig um und ließ sich schwer auf einen der Stühle sinken, den rechten Unterarm auf das Holz der Tafel gelegt, die linke Hand auf der Lehne seines Sessels. »Was will er dann?«

»Weißt du das wirklich nicht?« fragte Hagen.

Gunther sah auf. »Vielleicht möchte ich es aus deinem Munde hören, Freund Hagen.«

»Kriemhild«, sagte Hagen. »Es ist deine Schwester, die er begehrt.« »Sie ist ein Kind.«

»Sie ist eine Frau«, widersprach Hagen. »Und sie wird schon sehr bald eine sehr schöne Frau sein - die Schönste von allen. Und eine sehr reiche dazu.« Er beugte sich vor. »Überlege selbst - du hast keinen Sohn. Das Gesetz verbietet es deinen Brüdern, sich vor dir zu vermählen. Wenn du nicht heiratest und keinen Erben hast, dann wird Kriemhilds Sohn eines Tages den Thron von Burgund erben.«

»Aber wie kann er glauben, Kriemhilds Herz zu gewinnen, nachdem sie bisher jeden Freier abgewiesen hat, ohne ihn auch nur anzusehen?« »Das ist es ja gerade«, murmelte Hagen. Siegfried hätte Kriemhild nie von Angesicht zu Angesicht schauen dürfen. Das Lodern in Kriemhilds Augen hatte Hagen nicht vergessen. Und er war sicher, daß Siegfried es ebenfalls gesehen hatte. Er hätte blind sein müssen, es nicht zu sehen.

Gunther schwieg eine lange Zeit. »Und das allein soll rechtfertigen, ihn zu töten?« fragte er schließlich. »Eine Vermutung und ein ungutes Gefühl sind keine ausreichenden Gründe, das Gastrecht zu mißachten und einen Mord zu befehlen.«

»Keinen Mord«, widersprach Hagen. »Gib mir die Erlaubnis, und ich fordere ihn. Bei meiner Ritterehre.« »Er würde dich töten, Hagen. Er ist unbesiegbar.« »Er ist ein Mensch, und er blutet, wenn man ihn schneidet«, sagte Hagen. »Vielleicht tötet er mich, vielleicht ich ihn. Doch selbst wenn ich verliere, wird er Worms verlassen und wieder in die Welt hinausziehen. Burgund wäre sicher.« Gunther schüttelte den Kopf. »Nein, Hagen«, sagte er. »Was du vorschlägst, ist unmöglich.«

»Nicht unmöglich. Gefährlich vielleicht, aber...« »Ich kann nicht das Leben meines Freundes und Waffenmeisters aufs Spiel setzen, um eines ›Aber‹ willen, Hagen.« »Es ist mehr als das.« »So? Was dann? Ein Traum? Eine Vision?« »Vielleicht.«

»Und du hast recht damit«, nickte Gunther. »Ich weiß es. Ich fühle es wie du.« Er lehnte sich zurück und ballte hilflos die Faust. »Ich weiß es wie du, Hagen, und ich kann nichts tun. Wir beide können nichts tun. Ich bin nicht nur dein Freund, Hagen, ich bin auch König von Burgund und verantwortlich für sein Wohl. Ich kann mein Handeln nicht auf einer Ahnung begründen. Die Zeiten, da Träume und Visionen die Geschicke der Völker bestimmten, sind vorbei.«

Hagen schwieg. Er hatte nichts anderes erwartet, und doch war er enttäuscht »Dann nimm wenigstens meinen Rat, Gunther«, sagte er leise. »Sorge dafür, daß Siegfried deine Schwester niemals zu Gesicht bekommt, und sorge auch dafür, daß Kriemhild nicht zuviel von ihm sieht oder hört« Einen Moment überlegte er, ob er Gunther von dem verhängnisvollen Zusammentreffen unten im Thronsaal berichten sollte, tat es aber dann doch nicht. Vielleicht konnte er in Volker und Ute dringen, es zu verschweigen. Es war besser, wenn Gunther nichts davon wußte. Nach einer Pause fuhr er fort. »Vielleicht zieht er von selbst wieder ab, wenn seine Geduld auf eine zu harte Probe gestellt wird. Langmut ist nicht unbe dingt die Tugend der Helden.« Er würde nicht so gehen, und sie wußten es beide, aber es war in diesem Moment wenigstens ein schwacher Trost. Gunther nickte. »Ich werde es versuchen«, sagte er. »Doch ich fürchte, es wird nicht einfach sein. Du kennst Kriemhild. Sie hat den Starrkopf der Burgunder geerbt«