Hagen sagte nichts mehr. Es hätte nichts geändert. Er wandte sich zum Gehen, aber kurz bevor er die Tür erreichte, rief ihn Gunther noch einmal zurück »Hagen«, sagte er ernst. »Bitte vergiß nie, daß Siegfried zu Gast in Worms ist und daß ihn das Gastrecht schützt, solange er es nicht selbst bricht Wenn du die Hand gegen ihn oder einen seiner Begleiter erhebst, erhebst du sie gegen mich.«
6
»Hast du getan, worum ich dich gebeten habe?«
Ortwein von Metz drehte sich zu ihm um, antwortete jedoch nicht gleich. Es war zu dunkel, als daß Hagen seinen Gesichtsausdruck hätte erkennen können. Ortweins Gestalt war nicht viel mehr als ein konturloser Schatten in der hereinbrechenden Dunkelheit. »Siegfried?«
Hagen nickte, und Ortwein drehte sich wieder zur Brüstung, stützte sich auf die niedrige Mauer und blickte weiter auf den Fluß hinab. Es war dunkel geworden. Nacht und Stille begannen sich über das Land zu breiten, doch innerhalb der Mauern von Worms war es noch immer taghell. Hunderte von Fackeln brannten an den Längsseiten des Innenhofes; beiderseits des Tores, das anders als sonst zu dieser Stunde noch weit geöffnet war, loderten zwei mächtige Feuer, und es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Selbst hier oben auf den Wehrgängen waren die Stimmen der zahllosen Menschen, die Worms an diesem Abend bevölkerten, deutlich zu vernehmen. Musik wehte zu den beiden Männern herauf; das dumpfe Hämmern der Trommeln, das Schlagen von Lauten und Zimbeln und Rasseln, begleitet vom Geräusch zahlreicher murmelnder Stimmen, das wie entferntes Meeresrauschen zu ihnen heraufbrandete. Alles vermittelte eine Illusion von Frieden und Heiterkeit. »Gunther hat Gaukler bestellt«, murmelte Ortwein. »Für das Fest.« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Gaukler! Er hätte nach Kriegern schicken sollen, um diesen Kerl aus der Stadt zu jagen.« »Du übertreibst«, sagte Hagen und trat neben ihn. »Es wird genügen, wenn wir ein Auge auf ihn und seine Männer haben.« Ortwein lachte leise, ohne eine Spur von Heiterkeit. »Du kannst deine rechte Hand verwetten, daß sie nicht einen Atemzug tun, den ich nicht erfahre, Hagen.«
Und wir keinen, von dem Siegfried nicht weiß, fügte Hagen in Gedanken hinzu. Er dachte an Alberich, den Zwerg, der wahrscheinlich noch immer unerkannt durch die Burg schlich. Für einen Moment überlegte er, ob er seinem Neffen von Alberich erzählen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Ortwein war ein treuer Verbündeter Gunthers und ein tapferer Mann. Aber er war auch jung und mißtrauisch und aufbrausend wie kein anderer. Wieder wünschte sich Hagen, sein Bruder Dankwart wäre hier. »Gehen wir zurück«, schlug Hagen nach einer Weile vor. Die Dunkelheit und Stille jenseits der Mauern begannen eine eigentümliche Wirkung auf ihn auszuüben. Und er wußte, wie leicht es war, sich selbst in etwas hineinzusteigern. »Gunther legt Wert darauf, alle seine Männer um sich versammelt zu sehen beim Fest zu Ehren Siegfrieds.« »Auch alle Wachen?« murrte Ortwein. Zur Bekräftigung deutete er auf die verwaisten Wehrgänge. »Sieh dich um, Hagen. Alle Knechte sind unten und helfen in der Küche und im Keller, wenn sie nicht schon betrunken sind. Selbst die Wachen haben ihre Posten verlassen, und das Tor steht offen für jeden, der hereinmarschieren will.« Wütend schlug er sich mit der Faust in die flache Hand. »Ein bodenloser Leichtsinn! Ich begreife nicht, was in Gunther gefahren ist. Was ist dieser Xantener? Ein Zauberer, der die Sinne verwirrt?«
»Du verrennst dich in etwas«, antwortete Hagen. »Gunther betrachtet es als Ehre, einen Mann wie Siegfried als Gast bewirten zu dürfen. Und Siegfried wird wieder gehen.« »Wenn er hat, was er will!« grollte Ortwein.
»Oder eingesehen hat, daß er es nicht bekommen kann.« Hagen umfing noch einmal mit seinem Blick die samtene Schwärze der Nacht, die die Mauern der Stadt wie ein finsterer Belagerungsring umschloß, wandte sich mit einem Ruck um und legte Ortwein die Hand auf die Schulter. Ortwein streifte sie ab.
»Wir hätten Gernots Wunsch mißachten und Siegfried töten sollen, als er uns Grund dazu gab«, knurrte er. Seine Hand schloß sich in einer zornigen Bewegung um den Griff des Schwertes, das an seiner Seite hing. Hagen fiel auf, daß es keine der hübsch anzusehenden, aber reichlich nutzlosen Prachtklingen war, wie sie die meisten zur Feier des Abends angelegt hatten, sondern Ortweins einfaches, abgewetztes Schwert; die Waffe, die er im Kampf trug und führte. »Jetzt ist es dafür zu spät. Er ist schlau, dieser Xantener. Er weiß, daß er Worms nicht mit dem Schwert erobern kann, also schleicht er sich ein wie ein Dieb.« Er lachte hämisch. »Du glaubst, er wird gehen, Hagen? Ich fürchte, du irrst dich. Er wird bleiben, er wird sich in unsere Herzen schleichen und erst dann wieder gehen, wenn er die Krone Burgunds mit sich nehmen kann.« Hagen wollte antworten, aber Ortwein entfernte sich mit schnellen Schritten und verschwand in der Dunkelheit. Hagen ging langsam hinter ihm die Treppe hinab.
Der Innenhof der Burg schien von Menschen überzubranden. Nur ganz wenige Gesichter waren Hagen bekannt. Die Nachricht von der Ankunft Siegfrieds hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und die Tore der Burg waren an diesem Abend weit geöffnet. Das Land war arm an Festen, und das Volk war aus allen Himmelsrichtungen herbeigeströmt, begierig auf die Belustigung und darauf, einen Blick auf den sagenumwobenen Recken aus den Niederlanden zu werfen.
Auch aus dem Haupthaus drangen Licht und Stimmen und Gelächter. Hagen ging ein paar Schritte über den Hof, auf die Treppe zu, blieb aber auf halbem Weg stehen. Gunther war dort drüben in der Halle, Giselher und Gernot und alle anderen, aber auch Siegfried, und zu dem Xantener zog ihn nichts. Hagen sah sich nach Siegfrieds Begleitern um, aber keiner von ihnen war zu sehen. Sie mußten noch immer in ihren Quartieren sein. Nun, Ortwein würde dafür sorgen, daß sie auf Schritt und Tritt bewacht wurden. »Nun, Hagen von Tronje? Plagen dich Sorgen, oder kannst du nicht anders als finster blicken?«
Hagen fuhr herum, kam aber erst nach einer Weile auf den Gedanken, den Blick zu senken. Alberich stand hinter ihm. Er trug noch immer den gleichen braunschwarzen Umhang, hatte aber die Kapuze zurückgeschlagen, so daß sein fast kahler Zwergenschädel deutlich zu sehen war. Im licht der Fackeln waren seine Augen rot wie die eines Uhus. »Verschwinde«, sagte Hagen grob. »Zum Herumspionieren hast du dir den falschen Ort ausgesucht, Zwerg. Was willst du?« Alberich kicherte. »Was ich will? Vielleicht mich bei dir bedanken.« »Bedanken? Wofür?«
»Du hast nichts gesagt. Ein Wort von dir, und Ortweins Männer hätten Jagd auf mich gemacht wie auf einen tollen Hund.« »Du schätzt dich wichtiger ein, als du bist, Zwerg«, knurrte Hagen. »Es lohnt sich vielleicht, einen tollen Hund zu erschlagen. Einer Ratte, die herumschnüffelt, achtet man nicht.« Alberich verzog die Lippen zu einem dünnen Grinsen. »Du bist ungerecht, Hagen«, stellte er fest. »Was ärgert dich?«
»Wie kommst du darauf, daß ich verärgert bin?« fragte Hagen. »Wäre ich es...«
»Dann hättest du mich längst erschlagen, ich weiß«, unterbrach ihn Alberich. Seine Stimme klang gelangweilt. »Nicht erschlagen«, verbesserte Hagen ruhig. »Ersäuft. Ratten, die einem lästig werden, ersäuft man.« Er wollte an Alberich vorbeigehen, aber der Zwerg griff rasch nach seinem Arm und hielt ihn zurück. Sein Griff war überraschend stark. Hagen riß sich los. »Was willst du noch?«