»Mit dir reden«, antwortete Alberich. »Und dich vielleicht warnen.« »Warnen?« Hagen versuchte zu lachen, aber es mißlang. »Und vor wem?«
»Vielleicht vor dir selbst«, antwortete Alberich geheimnisvoll. »Was macht dich so zornig, Hagen? Ist es mein Herr?« »Und wenn?«
»Er ist nicht als dein Feind gekommen«, sagte Alberich ernsthaft. »Wäre es so, wärst du schon längst tot.« »Du scheinst dir da ziemlich sicher zu sein.« »Das bin ich. Niemand besiegt Siegfried von Xanten im Kampf.« »Unsinn«, sagte Hagen. »Niemand ist unbesiegbar.« »Und wie ist das mit dir, Hagen von Tronje? Stehst nicht auch du in dem Ruf, unbesiegbar zu sein?« »Auch ich bin schon geschlagen worden.«
»Begeh keinen Fehler, Hagen. Mein Herr bewundert und verehrt dich, doch er würde nicht zögern, dich zu töten, wenn er es müßte.« »Niemand außer dir spricht von töten, Zwerg«, erwiderte Hagen. »Ich tue es, weil ich die Schatten in deinem Gesicht sehe, Hagen. Hast du vergessen, daß ich in den Schatten lebe und ihre Sprache verstehe? Was ist mit dir?« Er deutete hinüber zur Halle, aus der Gelächter und Fetzen von Musik herüberwehten und sich mit dem Lärm auf dem Hof vermengten. »Warum bist du nicht dort und feierst mit den anderen?« »Ich sehe keinen Grund zum Feiern.«
»Ist es kein Grund zu feiern, neue Freunde gewonnen zu haben?« »Wenn sie es sind - sicher.« Alberich wiegte den Schädel. »Hagen, Hagen«, seufzte er. »Man hat mich vor dir gewarnt, doch dein Herz ist noch finsterer, als ich erwartet hatte. Fürchtest du, Siegfried könnte dir den Platz an Gunthers Seite streitig machen? Es besteht kein Grund zur Eifersucht.«
Hagen antwortete nicht, aber der bittere Zug um seinen Mund vertiefte sich, und Alberich verstummte. Um sie herum ging das Fest weiter, und aus der Ecke des Hofes, in der die Gaukler ihre bunten Zelte aufgebaut hatten und ihre Kunststücke vorführten, klangen schallendes Gelächter und Rufe herüber. Hagen ließ den Zwerg unvermittelt stehen und ging, und diesmal hielt Alberich ihn nicht zurück.
Unschlüssig schlenderte er über den Hof, ging hierhin und dorthin und fand sich schließlich in der dichtgedrängten Menge vor dem Zelt des Gauklervolkes stehen. Ein buntgekleideter Narr vollführte seine Tollheiten und griff grimassenschneidend und mit komischen Gesten nach den kleinen Münzen, die ihm hingeworfen wurden; hinter ihm, jeder auf einer Kiste stehend, damit auch die Zuschauer in den hinteren Reihen ihre Kunststücke beobachten konnten, warfen sich zwei schwarzhaarige Männer geschickt Messer und kurzstielige, blitzende Äxte zu. Neben ihnen ließ ein verhutzeltes Männchen einen einäugigen Bären tanzen. Es war seltsam, aber Hagen fühlte sich inmitten all des Trubels und all der Menschen für einen Moment allein. Hatte der Zwerg womöglich recht? dachte er erschrocken. War vielleicht alles, was ihm das Herz schwer machte, nichts anderes als die Furcht, daß Siegfried mit seiner Jugend und seinem Ungestüm seinen Platz an Gunthers Seite einnehmen würde? Unsinn. Es gehörte mehr dazu als eine starke Hand, lächelnder Hochmut und Überheblichkeit, Gunthers Vertrauen zu gewinnen. Siegfried war gekommen und hatte Worms im Sturm genommen, auf eine Art, die Hagen fremd und unverständlich war. Daher sein Mißtrauen. Er wandte sich zum Gehen. Das Treiben der Gaukler begann ihn zu langweilen.
Gunther, Giselher und Volker kamen ihm auf dem Weg zum Haupthaus entgegen. Siegfried war bei ihnen. Die königlichen Brüder und der königliche Gast wirkten heiter. Nur Volker gab Hagen mit den Augen ein Zeichen, das Sorge ausdrückte. Hagen erwiderte den Blick und schüttelte fast unmerklich den Kopf, ehe er Gunther entgegentrat und in zwei Schritten Abstand stehenblieb. »Mein König.« Gunther hob grüßend die Hand. »Hagen, mein Freund. Wir haben Euch an der Tafel vermißt. Mundet Euch Rumolds Küche nicht mehr, oder wollt Ihr den Mundschenk beleidigen?« Er lachte und hob spielerisch drohend den Finger. »Ihr werdet Euch den armen Rumold zum Feind machen, Hagen!« Hagen blieb ernst. »Die Posten mußten kontrolliert werden«, sagte er. »Jemand muß nach dem Rechten sehen, wenn alle anderen feiern.« Gunther schüttelte den Kopf. »Höre ich etwa Tadel in Eurer Stimme, Hagen? Ihr sollt nicht anderen den Spaß verderben, wenn Ihr selbst dem Treiben schon nichts abgewinnen könnt.«
»Ihr wißt, daß ich für Feste nichts übrig habe, mein König«, gab Hagen zurück »Aber warum nicht?« mischte sich Siegfried ein. »Ein Mann sollte auch zu feiern und sich zu vergnügen wissen, Hagen von Tronje, zur rechten Zeit.«
Hagen hatte Siegfried bisher keines Blickes gewürdigt, aber nun konnte er nicht länger so tun, als wäre dieser nicht da, wollte er nicht beleidigend wirken. So deutete er widerwillig ein Kopfnicken an. »Ihr sagt es, Siegfried. Zur rechten Zeit.«
»Aber vielleicht zieht Ihr ja andere Vergnügungen vor, Hagen«, sagte Siegfried spöttisch. »Ihr seid ein Mann des Kampfes, wie ich. Warum messen wir uns nicht - in aller Freundschaft?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um, drückte Giselher seinen Becher in die Hand und breitete die Arme aus, als müsse er Platz schaffen. Das Volk, das sie umringte, wich auseinander. Jedermann in der Nähe hatte Siegfrieds Worte gehört, und binnen weniger Augenblicke hatte sich ein Kreis von Neugierigen um sie gebildet Siegfried trat einen Schritt zurück und legte die Hand auf den Balmung. »In aller Freundschaft«, wiederholte er.
Auch Hagens Hand senkte sich auf den Schwertgriff. Für einen Moment hatte er ernsthaft Lust, Siegfrieds Herausforderung anzunehmen. Der Xantener machte es ihm leicht, fast schon zu leicht. Ein unglücklicher Schlag, ein Fehler, ein etwas zu kraftvoll geführter Hieb; Siegfried hatte getrunken, und es mochte reichen, daß seine Reaktionen nicht ganz so schnell ausfielen wie gewohnt. Ja, er könnte Siegfried töten, ohne daß ihn ein Vorwurf traf. Es gab genug Zeugen, die gehört hatten, daß es Siegfried gewesen war, der diesen Kampf vorgeschlagen hatte, und die beschwören konnten, daß der junge Raufbold angetrunken und in mutwilliger Laune gewesen war. Aber dann begegnete er Gunthers Blick und besann sich anders. »Nein«, sagte er. »Ich kämpfe nicht zum Spaß.« Unter den Zuschauern machte sich Enttäuschung Luft »Wer spricht von kämpfen?« Siegfried ließ nicht locker. »Laßt uns unsere Kräfte messen, wie es unter Freunden üblich ist« Hagen schüttelte den Kopf und nahm mit deutlicher Geste die Hand vom Schwert. »Diese Waffe ist kein Spielzeug«, sagte er. »So wenig wie Euer Balmung, Siegfried von Xanten. Zieht sie, um zu kämpfen und zu überleben, nicht, um damit zu spielen.«
Zorn glomm in Siegfrieds Augen auf. Er runzelte die Stirn, aber gleich darauf erhellte sich sein Gesicht wieder. »Dann laßt uns ringen, bis einer auf dem Rücken liegt und sich geschlagen gibt« Er beugte sich ein wenig vor, breitete die Arme aus und kam mit wiegenden Schritten auf Hagen zu.
Hagen rührte sich nicht Siegfried war über einen Kopf größer als er und fast doppelt so breit. Und er war zwanzig Jahre jünger. »Das, Siegfried von Xanten«, sagte er, »scheint mir kein ehrenhaftes Angebot zu sein.« »Ihr kneift, Hagen?«
»Wenn Ihr es so nennen wollt Es ist nicht unbedingt ein Zeichen von Feigheit, nicht mit Euch ringen zu wollen.« Er sah die Warnung in Gunthers Augen, aber irgend etwas zwang ihn dazu, sie zu mißachten. »Warum sucht Ihr Euch nicht einen Gegner, der Euer würdig ist?« Hagen deutete mit einer Kopfbewegung nach hinten, dorthin, wo die Gaukler waren. »Etwa den Bären.«
Gunther erbleichte vor Schreck, sagte aber nichts. Siegfrieds Gesicht verzerrte sich, und Hagen erwartete, daß er sich nun, seiner Weigerung zum Trotz, gleich auf ihn stürzen würde. Er spannte sich. Wenn Siegfried ihn jetzt angriff, würde er ihn töten. Dann stieß Siegfried hörbar und tief die Luft aus. Nach einer kurzen Atempause sagte er, so laut, daß jedermann auf dem Hof es hören konnte. »Warum nicht? Gebt den Weg frei!«