»Ihr werdet das Tier ersetzen müssen«, sagte Hagen ruhig. »Es ist verdorben für die Dressur, nach dem, was Ihr mit ihm gemacht habt, Siegfried. Sein Herr muß es töten lassen.«
Siegfried starrte ihn mit brennenden Augen an. »Ich gebe zu, daß ich Euch unterschätzt habe, Hagen von Tronje«, sagte er. Er sprach leise, und seine Stimme klang anders als zuvor. »Aber ich verspreche Euch, daß das nicht noch einmal vorkommen wird. Das nächste Mal werde ich Euch als den Gegner zu würdigen wissen, der Ihr seid.«
»Welches nächste Mal?« fragte Hagen gelassen. »Ich dachte, wir wären Freunde?«
»Denkt an meine Worte«, sagte Siegfried. »Ich begehe nie zweimal den gleichen Fehler, Hagen von Tronje.« Er wandte sich um, griff nach seinem Wams und verschwand in der Menge.
Hagen sah ihm mit unbewegtem Gesicht nach. Dann blickte er hinauf zum Turm und suchte das schmale Fenster der Kemenate. Er war sich nicht sicher, aber für einen Moment glaubte er, ein helles, vom Schleier umwehtes Gesicht zu erkennen.
Plötzlich fröstelte er. Ich begehe nie zweimal den gleichen Fehler, wiederholte er in Gedanken Siegfrieds Worte.
Nun, für ihn galt dasselbe. Auch er hatte niemals ein und denselben Fehler zweimal begangen. Aber vielleicht war einmal schon zuviel.
7
Der Sommer war gekommen und wieder gegangen, und wieder hatte der Winter das Land mit seinem eisigen Hauch und der Stille frisch gefallenen Schnees in Besitz genommen, ehe er zögernd und - wie zum Ausgleich für den zeitigen Einbruch des Frühlings im letzten Jahr - sehr spät dem ersten warmen Hauch des Frühjahrs zu weichen begann. Aber noch ließ sich der Frühling nur ahnen, noch war es, gerade hier oben auf den Mauern, wo es keinen Schutz vor dem Wind und kein wärmendes Feuer gab, klirrend kalt, und das rauhe Holz des Wehrgangs war mit einem glitzernden Eispanzer überzogen, so daß man achtgeben mußte, wohin man seine Schritte lenkte.
Hagen stützte sich schwer auf die vereiste Mauerkrone. Der Wind spielte mit seinem Haar, das heute nicht von einem Helm bedeckt war, und die Kälte war trotz des schweren wollenen Mantels und des gegerbten Schaffelles, das er zusätzlich darübergeworfen hatte, längst in seine Glieder gekrochen und machte sie schwer und taub. Sein Atem schlug sich in Form kleiner, regelmäßiger Dampfwölkchen auf seinem Gesicht nieder, und seine Finger kribbelten trotz der schweren Handschuhe vor Kälte. Er war hier heraufgekommen, um nach Dankwart und Ortwein Ausschau zu halten, die zusammen mit Siegfried und einer Handvoll seiner Begleiter über Land geritten waren und eigentlich schon am vergangenen Abend hätten zurückkehren sollen. Doch die einzige Spur von Leben, die sich ihm zeigte, war ein Schiff, das eine Pfeilschußweite hinter den Dächern der Stadt auf dem Fluß dahinglitt. Hagen beobachtete es schon eine geraume Weile; in der weißüberzuckerten Landschaft rechts und links des Rheines war sein gemächliches Dahintreiben die einzige Bewegung, beinahe die einzige Spur von Leben.
Der Kahn bewegte sich langsam, fast träge. Der Wind war im gleichen Maße, in dem die Sonne den Himmel im Osten erst grau und dann rot färbte, abgeflaut, so daß das große, braunweißgestreifte Segel schlaff von den Rahen hing und nur dann und wann das Klatschen des von der Nässe schwer gewordenen Segeltuches durch das Wispern der Wellen drang. Die beiden Ochsen, die am Ende der straffgespannten Seile auf dem Treidelpfad zogen, vermochten den breiten, bis zum Bersten beladenen Rumpf des Kahnes kaum gegen den Sog der Strömung von der Stelle zu bewegen. Ab und zu ließ eines der Tiere ein unruhiges Brummen hören, aber ihre Treiber knallten unbarmherzig mit den Peitschen, wenn sie auch nur die Köpfe senkten, um an einem der kärglichen Grasbüschel zu rupfen, die rechts und links des schlammigen Pfades durch den Schnee lugten und das eintönige Weiß des Ufers mit Flecken von Braun und Grün auflockerten. Die Luft war sehr klar, aber trotzdem mit einer Art ungreifbarem Nebel durchsetzt, und anders als die Geräusche, die beinah unnatürlich weit zu vernehmen waren, schien alles Sichtbare verschwommen und unklar. Die Gestalt des Schiffers auf dem Deck war nicht mehr als ein verschwommener blasser Schatten gegen das graue Band des Flusses, und seine Stimme wurde fast vom Flüstern des Wassers verschluckt.
Hagen hob die Hand und erwiderte den Gruß des Mannes, als dieser der Burg zuwinkte; ein Gruß ohne bestimmtes Ziel, denn gegen das Licht der noch tiefstehenden roten Sonne konnte Worms nicht mehr als ein mächtiger schwarzer Schatten sein, Hagen in seinem dunklen Umhang ein Teil desselben. Der Kahn hatte die Landungsstege passiert und bewegte sich jetzt langsam weiter nach Süden, den Rhein hinauf und in wärmere Gefilde. Er hatte nicht angehalten wie die zahllosen anderen Lastkähne, die Worms in den vergangenen Tagen und Wochen angelaufen hatten, sondern fuhr weiter, und Hagen überlegte kurz, woher er gekommen war und was sein Ziel sein mochte. Der lange Winter hatte auch die Schifffahrt stark beeinträchtigt, und als das Eis endlich aufgebrochen und der Fluß wieder schiffbar geworden war, waren die Boote herbeigeströmt, um den unersättlichen Hunger der vom Winter gebeutelten Stadt wenigstens notdürftig zu stillen. Auch die Speicher und Keller von Worms waren leer, um so mehr, als die Anwesenheit des Xanteners die doppelte Zahl von Besuchern und Gästen angelockt hatte. Hagen löste sich vom Anblick des Flusses, drehte sich um und blickte nachdenklich auf den Hof hinunter. Es war nicht nur ein sehr langer und harter Winter gewesen, der hinter ihnen lag, sondern auch einer der unruhigsten, an die er sich erinnern konnte. Die Burg sah mitgenommen aus, müde wie ein Krieger, der zu lange im Feld gewesen war: nicht verwundet, aber grau und abgekämpft und mit zahllosen Kratzern und Scharten bedeckt. In den Ritzen und Spalten der grauen Wehrmauern schimmerte Eis wie weißes Pilzgeflecht, und auf dem Hof lagen Schnee und brauner, krumiger Schlamm. Es war, als duckte sich die Burg unter dem tiefhängenden Himmel. Der gedämpfte Klang eines Homes ließ Hagen aus seinen Gedanken schrecken. Er sah auf und blickte nach Norden, darauf gefaßt, ein Dutzend Reiter über den Hügeln am Rheinufer auftauchen zu sehen; aber da war nichts. Hagen hielt schützend die Hand über die Augen, um zum Turm hinaufzuschauen, von dem das Signal gekommen war. Er konnte die Posten gegen das grelle Licht der Morgensonne nicht erkennen, aber das Hornsignal wiederholte sich. Doch als er schließlich nach Osten blickte, gewahrte Hagen eine Anzahl dunkler Punkte im Schnee, die rasch näher kamen. Sie bewegten sich querfeldein, den Bogen, den die halb verschneite Straße schlug, über den Acker abschneidend. Es waren zwei Reiter mit vier Pferden, von denen zwei als Packtiere dienten: ein Zeichen dafür, daß sie von weit her kamen; weit von jenseits der Grenzen Burgunds. Reiter und Tiere wirkten erschöpft. Hagen verließ seinen Posten auf der Mauer, eilte - vorsichtig, um nicht auf den vereisten Stufen auszugleiten - die Treppe zum Hof hinunter, wandte sich zum Tor und erreichte es fast zur gleichen Zeit wie die beiden Fremden. Sein erster Eindruck war richtig gewesen: sowohl die Männer als auch ihre Tiere befanden sich in denkbar schlechtem Zustand. Die Zugbrücke war heruntergelassen, und auch die beiden Flügel des mächtigen Eichentores standen weit offen; das Fallgitter war hochgezogen, und seine Spitzen lugten wie rostige Zähne eines klapperigen Eisengebisses aus dem Torbogen. Der Wind war hier unten fast noch unangenehmer als oben auf der Mauer; er fuhr durch das Tor wie durch eine Schleuse herein, und Hagen senkte den Kopf, um sich dagegen zu stemmen. Die Reiter brachten ihre Tiere erst zum Stehen, als die beiden Wachen am Tor vortraten und die Speere kreuzten. Die beschlagenen Hufe der Pferde hämmerten dumpf auf dem Holz; die Tiere waren unruhig, ihre Leiber dampften in der Kälte, und das offenstehende Tor und die Geräusche und Gerüche der Burg verhießen ihnen die Nähe von Ställen und Futter. Es kostete die Reiter sichtlich Mühe, die Pferde zum Anhalten zu zwingen.