Hagen blieb im Scharten des Torbogens stehen, um die Fremden einen Moment in Ruhe betrachten zu können, ohne selbst gesehen zu werden. Eine der Wachen trat den Männern entgegen und richtete das Wort an sie; bestimmt, aber mit der Fremden gegenüber gebotenen Höflichkeit. »Was ist Euer Begehr, Herren?« fragte er. »Wer seid Ihr, und was führt Euch nach Worms?«
»Wir haben eine Botschaft für Gunther, den König von Burgund. - Für ihn allein«, antwortete einer der Reiter; in schärferem Ton, als Hagen angemessen schien. Es war nicht nur die Erschöpfung, die den Mann ungeduldig werden ließ, das spürte Hagen. Die beiden Reiter kamen nicht als Freunde. Hagen verließ den Schatten des Tores, sandte die Wachen mit einem Wink auf ihre Posten zurück und trat den Reitern entgegen. Die Pferde stampften, ihr Atem ging rasselnd, ihre Reiter mußten sie gnadenlos gehetzt haben.
Hagen legte einem der Tiere die Hand auf die Nüstern, streichelte es beruhigend und sah fragend zu seinem Reiter auf. Der Mann war sehr groß und so breitschultrig, daß er beinahe bucklig wirkte, und seine Hände, die trotz der beißenden Kälte unverhüllt waren, schienen kräftig genug, eine Lanze zu zerbrechen.
»Nun, Ihr Herren«, fragte er betont freundlich, fast heiter. »Ist es dort, wo Ihr herkommt, nicht üblich, die Frage nach dem Woher und nach dem Auftrag zu beantworten?«
Die Männer schwiegen, und Hagen merkte, wie ihre Anspannung wuchs. Sie waren nervös. Und er glaubte zu spüren, daß sie Furcht hatten. Furcht wovor?
»Die Tore von Worms stehen jedem offen«, fuhr Hagen fort. »Jedem, der in Freundschaft kommt oder der Hilfe bedarf.« Er trat zurück, machte eine einladende Bewegung mit der Hand und deutete eine Verbeugung an. »Nennt Eure Namen und Euer Begehr und seid unsere Gäste.« »Wir bringen eine Botschaft für Gunther von Burgund«, erwiderte der breitschultrige Reiter wie zuvor.
»Sagt sie mir«, verlangte Hagen. »Ich werde Gunther berichten, daß Boten für ihn eingetroffen sind. Was ist das für eine Botschaft, die Ihr bringt?«
»Sie ist für die Ohren des Königs bestimmt, nicht für die eines Knechtes«, schnappte der andere. Er versuchte, Hagens Hand beiseitezuschieben, aber die Finger des Tronjers hielten das Zaumzeug des Pferdes eisern fest. »Wer bist du, daß du es wagst, einen Boten aufzuhalten, der wichtige Kunde für deinen König bringt?«
Hagen sah aus den Augenwinkeln, wie sich die beiden Torwachen spannten, brachte sie aber mit einer Geste zur Ruhe. »Nehmt an«, sagte er, noch immer lächelnd, »ich sei sein Waffenmeister. Und vielleicht sein Freund.« Erschrecken zuckte über das Gesicht des Reiters. Seine Haltung änderte sich nicht, trotzdem spürte Hagen, wie seine Unsicherheit wuchs. Und seine Angst. »Sein Waffenmeister?« entfuhr es ihm. »Ihr seid ... Hagen von Tronje?« Es gelang ihm nicht ganz, seine Überraschung zu verbergen: Dieser unscheinbare Mann, der weder überdurchschnittlich groß noch besonders muskulös war und der in seinem einfachen braunen Mantel und dem übergeworfenen rohgegerbten Schaffell noch unscheinbarer, eher wie ein Stall - als wie ein Waffenmeister wirkte, sollte der gefürchtete Hagen von Tronje sein? »Ja«, sagte Hagen. »Nun, vertraut Ihr mir jetzt?« Der Reiter klopfte nervös die Mähne seines Pferdes. Der Blick, mit dem er Hagen ansah, war fast flehend. »Ich... kann es nicht, Hagen«, sagte er. »Ich habe geschworen, nur Gunther von Burgund selbst meine Botschaft zu überbringen. Niemandem sonst«
Hagen blickte einen Moment an den Reitern vorbei auf den Fluß hinab, als gäbe es dort etwas Besonderes zu sehen. »Geschworen«, wiederholte er. »Nun, wenn Ihr einen Eid abgelegt habt, so will ich Euch nicht zwingen, ihn zu brechen. Ihr und Euer Begleiter seid willkommen in Worms.« Er trat beiseite. »Übergebt den Knechten Eure Tiere, und laßt Euch selbst einen Becher heißen Met geben, während ich zum König gehe und Euer Kommen ankündige.«
Der Reiter zögerte. Hagens unerwartet freundliche Art verwirrte ihn. »Oder ist Eure Botschaft von so großer Dringlichkeit, daß Ihr nicht Zeit hättet, Euch zu säubern und frische Kleider anzulegen, ehe Ihr vor unseren König tretet?« fügte Hagen hinzu. »Wenn es Euer Wunsch ist, könnt Ihr auch eine Weile ausruhen. Ihr müßt erschöpft sein.« Der Reiter nickte krampfhaft »Wir sind ... lange geritten«, sagte er. »Aber unsere Nachricht ist dringend, Hagen von Tronje. Es ist gut möglich, daß das Leben vieler tapferer Männer davon abhängt, ob Euer König sie hört oder nicht.«
Hagen blickte ihn prüfend an, und der andere hielt seinem Blick stand. Hagen nickte.
»Dann wollen wir keine Zeit verlieren. Folgt mir. Die Wachen werden sich um Eure Tiere und Euer Gepäck kümmern.« Die beiden Reiter saßen wortlos ab. Der zweite hatte bisher keinen Laut von sich gegeben; vielleicht war er einfach zu erschöpft, um Kraft zum Reden aufzubringen.
Der breitschultrige Hüne trat an Hagen vorbei und sah sich mit unverhohlener Neugier auf dem Innenhof um, während sein etwas gedrungenerer Begleiter sich noch am Sattelzeug zu schaffen machte und ein längliches, zum Schutz vor Nässe in gegerbtes Ziegenleder eingeschlagenes Bündel hervorholte.
Hagen beobachtete den ersten scharf. Der Blick, mit dem er sich umsah, gefiel ihm nicht. Es war nicht nur bloße Neugier, die ihn dabei leitete. Es war der geschulte Blick eines Kriegers, der gleichzeitig die Stärke der Befestigungsanlagen prüfte, die Anzahl der Wachen wahrnahm und die Anzahl derer schätzte, die im Inneren waren und auf den Wehrgängen Platz hatten. Dieser Mann war kein gewöhnlicher Bote. Sein Blick war der eines Eroberers, eines Mannes, der eine Festung nur ein einziges Mal sehen mußte, um zu wissen, ob sie einzunehmen war - und wie. »Seid Ihr zufrieden?« fragte Hagen.
Der andere wandte betont langsam den Kopf. Er mußte wissen, daß Hagen seine Neugier richtig deutete. Aber es schien ihm nichts auszumachen.
»Ich habe viel von Worms gehört«, erwiderte er. »Man sagt, daß es eine starke Festung ist. Ich sehe, das ist sie.« »Stark genug?« fragte Hagen. »Wozu?«
Hagen deutete mit einer Kopfbewegung zum Wehrgang hinauf. »Könnt Ihr sie einnehmen?« Der andere nickte. »Man kann jede Festung einnehmen, vorausgesetzt, man hat genügend Männer und Zeit«, sagte er. »Doch Worms scheint mir von besonderer Stärke.«
»Stärke...« wiederholte Hagen nachdenklich. »Stärke allein nützt nichts. Es kommt immer darauf an, wie man sie einsetzt.« Der andere ging nicht darauf ein. Er drehte sich um und sah ungeduldig zu seinem Begleiter zurück, der noch immer mit den Packtieren beschäftigt war. »Ist es wahr, daß Siegfried von Xanten als Gast in Worms weilt?« fragte er beiläufig. »Wie kommt Ihr darauf?« Ein flüchtiges Lächeln erhellte die Züge des anderen und erstarb wieder. »Einfach so«, sagte er. »Wir sprachen über Stärke.« »Er ist hier«, bestätigte Hagen nach kurzem Zögern. Wenn auch nicht unbedingt als Gast, fügte er in Gedanken hinzu. Nach einem Jahr konnte man schwerlich noch von Gast reden. »Hat Eure Frage mit dem Grund Eures Hierseins zu tun?« fügte er hinzu.
Diesmal blieb ihm der Mann die Antwort schuldig. Schweigend setzte er sich in Bewegung und begann langsam über den Hof auf das Haupthaus zuzugehen. Der andere folgte ihm. Ein paar Knechte kamen ihnen entgegen, aber niemand schenkte den beiden Fremden Beachtung. Worms hatte während des zurückliegenden Winters zu viele fremde Gesichter gesehen, als daß zwei weitere noch auffielen. »Woher kommt Ihr?« fragte Hagen, der mit dem zweiten Mann Schritt hielt. »Oder ist das auch ein Geheimnis?«
»Aus dem Norden. Eure Heimat und meine liegen nicht weit voneinander, Hagen.«
Sie sprachen kein Wort mehr, bis sie den Thronsaal erreichten und Hagen den beiden mit einer knappen Geste bedeutete zu warten. »Ich werde sehen, ob König Gunther bereit ist, Euch zu empfangen.« Er wandte sich zur Tür, zögerte, als wäre ihm im letzten Augenblick noch etwas eingefallen, und drehte sich um. »Und wen soll ich melden?« »Den Boten König Lüdegers, des Königs der Sachsen«, erwiderte der Größere der beiden.