»Und den Lüdegasts, des Königs der Dänen«, fügte der andere hinzu. Hagen war nicht sehr überrascht. Er hätte blind sein müssen, zu glauben, daß die zwei in einem friedlichen Auftrag gekommen waren. Lüdeger und Lüdegast ... die Namen der beiden königlichen Brüder klangen nach Tod und Unheil, wo immer sie genannt wurden. Hagen nickte, wandte sich um und ging in den Thronsaal. Gunther stand am Fenster und blickte auf den Hof hinunter. Erwartungsvoll drehte er sich um, als er Hagens Schritte hörte. Er mußte beobachtet haben, wie Hagen die beiden Fremden über den Hof geleitete. »Du bringst Besucher, Hagen?« fragte er. Wie immer, wenn sie allein waren, benutzten sie beide als Anrede das vertrauliche Du. Hagen nickte. »Fremde«, sagte er. »Aber keine Freunde, fürchte ich.« »Keine Freunde?« Zwischen Gunthers feinen blonden Brauen erschien eine steile Falte. In der dicken, schaffellgefütterten Kleidung, in die er sich gehüllt hatte, wirkte er massiger, als er tatsächlich war. Trotz des prasselnden Feuers, das in der offenen Feuerstelle brannte, war es hier drinnen beinahe kälter als draußen. Die steinernen Wände atmeten einen eisigen Hauch aus. »Wie meinst du das?«
»Es sind Boten des Sachsenkönigs Lüdeger«, antwortete Hagen, »und seines Bruders Lüdegast, des Herrn der Dänen. Sie haben mir nicht gesagt, wie ihr Auftrag lautet. Aber es ist nicht schwer zu erraten. Die Sachsen und die Dänen plündern und morden schon länger als ein Jahr oben im Norden, und nun...«
»Sind sie gekommen, um den Krieg in unser Land zu tragen?« unterbrach ihn Gunther. Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Mit belegter Stimme fügte er hinzu: »Vielleicht siehst du wieder einmal zu schwarz, Hagen.« »Ich hoffe es«, murmelte Hagen.
»Wie auch immer, wir sollten nicht urteilen, ehe wir ihre Botschaft gehört haben. Führ sie herein.« Hagen sah sich im Raum um. »Sie sind bewaffnet. Willst du sie allein empfangen?«
»Ich bin nicht allein«, erwiderte Gunther. »Du bist ja da. Mag sein, daß es Kriegsboten sind, doch bestimmt keine gedungenen Mörder. Führ sie herein.«
Hagen war in diesem Punkt nicht ganz so zuversichtlich wie Gunther, aber er gehorchte.
Die beiden Männer sprachen leise miteinander, brachen jedoch mitten im Wort ab, als Hagen heraustrat. Hagen sah noch, wie der Sachse die Rolle aus Ziegenleder unter seinem Mantel verschwinden ließ. Der Däne wirkte etwas betreten, während der hünenhafte Sachse Hagen mit demselben Gleichmut entgegenblickte, den er schon die ganze Zeit zur Schau trug.
Hagen trat bis auf Armeslänge an sie heran. »König Gunther erwartet Euch«, sagte er, verstellte den beiden aber gleichzeitig den Weg, als sie an ihm vorbeigehen wollten. »Eure Schwerter«, sagte er. Der Däne setzte zu einer scharfen Antwort an, aber der Sachse kam ihm zuvor. Die Rechte auf den Knauf des schartigen Schwertes gelegt, das er ohne Scheide im Gürtel trug, fragte er: »Unsere Schwerter?«, als hätte er Hagens Aufforderung nicht richtig verstanden. »Was meint Ihr damit, Hagen von Tronje?« Hinter ihnen entstand eine Bewegung. Die beiden Wachen, die bisher reglos am Fuß der Treppe gestanden und die Fremden mit scheinbar unbeteiligten Gesichtern beobachtet hatten, traten einen Schritt näher. Hagen scheuchte sie zurück. »Ich meine damit«, erwiderte er, noch immer ruhig, aber ein wenig schärfer als bisher, »daß Ihr und Euer Begleiter nicht mit dem Schwert im Gürtel vor unseren König treten werdet Nicht, solange Ihr den Grund Eures Kommens verschweigt.«
Wieder wollte der Däne auffahren, und wieder war der Sachse schneller. »Ich will zu Euren Gunsten annehmen, daß Ihr Eure Worte nicht so gemeint habt, wie ich sie verstanden habe«, sagte er drohend. »Denn sonst müßte ich Euch zum Kampf fordern. Wir sind keine gedungenen Mörder, Hagen von Tronje.«
»Es ist mir gleich, was Ihr denkt«, antwortete Hagen kühl. »Solange Ihr Euch weigert, mir den Grund Eures Besuches zu nennen, kann ich nicht anders handeln. Würdet Ihr mich im umgekehrten Fall ungefragt zu Eurem Herrn vorlassen?«
Der Sachse schwieg. Hagen war nicht auf seine versteckte Herausforderung eingegangen, aber fast schien es, als wäre der Sachse froh darüber. Langsam zog er Dolch und Schwert aus dem Gürtel und reichte sie Hagen, und nach kurzem Zögern tat es ihm sein Begleiter gleich. Hagen legte die vier Klingen achtlos auf den Fenstersims, streifte mit einer raschen Bewegung das Schaffell von seinen Schultern und straffte sich. Mit einer einladenden Geste deutete er hinter sich. »Bitte. König Gunther erwartet Euch.«
Gunther saß auf seinem Thron. Er hatte die Zeit genutzt, den warmen, aber wenig kleidsamen Mantel gegen den blutroten Umhang der burgundischen Reiterei zu tauschen, und trug jetzt - was Hagen einigermaßen überraschte - sogar die schwere sechsstrahlige Krone auf dem Haupt. Er lächelte, aber es war ein bloßes Verziehen der Lippen, das die Höflichkeit gebot und das nicht über den mißtrauischen Ausdruck seiner Augen hinwegtäuschen konnte.
Die beiden Boten näherten sich dem Thron, blieben in gebührendem Abstand stehen und verneigten sich leicht; gerade genug, um den Regeln des Anstands Genüge zu tun. Hagen stellte sich so, daß er sie und Gunther gleichermaßen im Auge behalten und Ihre Regungen von ihren Gesichtern ablesen konnte.
»König Gunther«, begann der Sachse steif. »Herrscher von Burgund und König des Geschlechts der Gibikungen. Unsere Herren, die Könige Lüdeger und Lüdegast, Herrscher des Sachsen- und des Dänenlandes, entbieten Euch ihre Grüße und senden Euch ihre Ehrerbietung und Hochachtung ... Und diese Botschaft.« Er zog die Rolle aus Ziegenleder unter seinem Mantel hervor und hielt sie dem König hin. Gunther machte keine Anstalten, danach zu greifen, sondern erwiderte seinen Blick kühl und rührte sich nicht. Hagen sah, wie es im Gesicht des Sachsen arbeitete. Ein verräterisches Funkeln trat in seine Augen; aber es war weniger Zorn als Unsicherheit Rasch, bevor sich die Lage noch mehr spannte, trat Hagen hinzu, nahm dem Mann die Rolle aus der Hand und reichte sie Gunther. Gunther nahm sie entgegen, warf einen Blick auf das Siegel und ließ die Rolle achtlos auf seine Knie sinken. »Ich danke Euch«, sagte er ruhig. Seine Hand legte sich auf die Schriftrolle. Sein Blick streifte Hagen. Dann wandte er sich wieder den beiden Boten zu. »Diese Botschaft, die Ihr bringt«, fuhr er fort. »Ich werde sie lesen, in der gebotenen Ruhe und mit der gebotenen Sorgfalt. Doch mein Waffenmeister Hagen berichtete mir, daß Ihr in großer Eile seid und diese Eure Botschaft von großem Gewicht sei. Sagt sie mir - in Kürze.« Die Gestalt des Sachsen versteifte sich. Hagen war sich nicht ganz im klaren darüber, ob er das Verhalten des Königs gutheißen sollte oder nicht »Die... Kunde von Eurem Reichtum und Burgunds Größe und Macht ist weit über die Grenzen Eures Reiches hinausgedrungen«, begann der Sachse endlich stockend. Seine ersten Worte klangen schleppend, als versuchte er einen auswendig gelernten Text aufzusagen, hätte aber Mühe, sich auf den genauen Wortlaut zu besinnen. »Sie blieb auch König Lüdeger, dem Herrscher der Sachsen, und dem Dänenkönig Lüdegast nicht verborgen...« Er räusperte sich. »Burgund und Worms, König Gunther«, fuhr er dann wesentlich gefaßter und sicherer fort, »haben sich den Groll unserer Könige und ihrer Getreuen zugezogen. Der Ruf Eurer Stärke und Eures Mutes ist unseren Herren seit langem ein Dorn im Auge. Deshalb haben beide beschlossen, diesen Mut auf die Probe zu stellen.«
Gunther zeigte sich, wenn überhaupt, so nur mäßig überrascht Ein Blick in Hagens Richtung brachte ihm Bestätigung. »Das bedeutet - Krieg«, sagte Gunther nach kurzem Schweigen. Der Sachse nickte mit unbewegtem Gesicht. »Lüdeger und Lüdegast rüsten sich zu einer Heerfahrt an den Rhein, edler König. Binnen zwölf Wochen werden ihre Heere vor den Toren von Worms stehen, gerechnet vom Tage unserer Rückkehr an.« Der Däne, nun ebenfalls beherzter geworden, fügte erklärend hinzu:»Unsere Herren gewähren Euch zwölf Wochen Frist Eure Getreuen zu sammeln und Eure Heere zu ordnen, wenn Ihr die Herausforderung annehmt.«