Gunther runzelte die Stirn. »Wenn wir sie... annehmen?« fragte er. »Was soll das heißen? Haben wir denn eine Wahl?« »Die Botschaft, die Euch Lüdeger und Lüdegast senden«, sagte der sächsische Riese mit einer Geste auf die Schriftrolle, die noch immer unberührt auf Gunthers Knien lag, »sagt auch, daß Ihr den Krieg meiden könnt, wenn Ihr ihn scheut. Seid Ihr bereit, einen Betrag in Gold und edlen Steinen zu zahlen, der Euch in diesem Schreiben genannt ist, so werden unsere Herren auf die Heerfahrt verzichten, und das Leben vieler tapferer Männer bleibt verschont.«
Gunther erstarrte. Seine Finger spannten sich so fest um die Schriftrolle, daß man das Pergament in ihrem Inneren knistern hören konnte. Dem König des Burgunderreiches ein solches erpresserisches Angebot zu machen verlangte mehr als nur Mut »Wir... danken Euch für Eure Offenheit«, sagte er. »Und die Sorgfalt, mit der Ihr Euch Eures Auftrags entledigt habt Doch nun laßt uns allein. Wir werden über den Vorschlag beraten. Mein Waffenmeister wird Euch Quartier anweisen lassen. Ich... werde zur gegebenen Zeit nach Euch schicken, um Euch unsere Entscheidung mitzuteilen.« Hagen klatschte in die Hände. Zwei Wachen kamen herein und nahmen auf Hagens Wink die beiden Fremden zwischen sich. »Führt diese beiden Herren in die Stadt hinab und weist ihnen die besten Quartiere zu«, sagte er. »Und sorgt auf das allerbeste für ihr leibliches Wohl. Sie sind Gäste des Königs.«
Spätestens nach diesen Worten, die bei aller Freundlichkeit wie ein Befehl klangen, war den beiden Abgesandten klar, daß Widerstand zwecklos und zudem nicht ratsam war. Unwillig, doch ohne Protest, verließen sie zwischen den beiden Wachen den Saal.
Gunther und Hagen waren allein. Gunther hatte seine Haltung nicht verändert. Er saß da, die Rolle auf seinen Knien, und starrte blicklos vor sich hin. »Krieg«, murmelte er. »Du hattest recht, Freund Hagen. Es ist ein Jahr vergangen, bis deine Prophezeiung sich erfüllt hat, aber sie hat sich erfüllt. Oder sie wird es hin, in Kürze. Krieg.«
Hagen schwieg. Er konnte Gunther nur zum Teil recht geben. Als ob sie es nicht alle längst vorausgesehen hätten: Lüdeger und Lüdegast plünderten seit mehr als einem Jahr im Norden, und nicht einmal der Winter hatte Einhalt gebieten können. Selbst während der langen kalten Monate, die Worms von Schnee und tobenden Winterstürmen eingeschlossen gewesen war, hatten immer wieder Nachrichten vom Vordringen der sächsischen und dänischen Heere die Stadt erreicht Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, wann die beiden kriegslüsternen Brüder ihre Hand auch nach Burgund ausstrecken würden - wann, nicht ob sie es taten. »Wir müssen... alle zusammenrufen«, sagte Hagen und merkte, daß seine Stimme heiser klang. »Es muß ein Rat abgehalten werden. Ihr habt gehört, was der Däne gesagt hat, mein König.« Er sprach langsam und wählte unwillkürlich, obgleich sie wieder allein waren, die förmliche Anrede statt des vertraulichen Du. In diesem Moment mußte die Freundschaft zurückstehen, waren Gunther und Hagen wieder der König und sein Waffenmeister, und beide, jeder auf seine Art, allein. Gunther nickte abwesend. Seine Finger spielten unbewußt mit der ledernen Rolle auf seinen Knien. »Rufe Gernot und Giselher, Volker und...« »Es sind nicht alle Edelleute bei Hofe«, unterbrach ihn Hagen. »Volker, Euer Bruder Giselher und Siegfried sind ausgeritten, wie Ihr wißt« »Ausgeritten?« Gunther blickte verwirrt auf, als erwache er langsam aus einem bösen Traum. »Wollten sie nicht schon... gestern zurück sein?« Hagen nickte. »Das wollten sie. Aber der Winter ist noch nicht vorüber, und die Straßen sind schlecht Wenn Ihr es befehlt, mein König, dann sende ich ihnen Reiter entgegen, sie zurückzurufen.« »Ja. Tu das, Hagen«, sagte Gunther leise. Er wirkte beherrscht aber Hagen kannte ihn lange genug, um hinter seine Stirn blicken zu können. Es war nicht Furcht, was in seiner Stimme schwang. Gunther war erschüttert. König Gunther - Gunther von Burgund, den Mann auf dem Thron von Worms - hatte die Botschaft nicht überraschen können, denn er hatte gewußt, daß es eines Tages so kommen würde. Aber der wahre Gunther, der Mensch, der sich unter der Last der Krone verbarg und den nur Hagen und allenfalls seine Mutter Ute kannte - er weigerte sich, das Gehörte zu glauben. Er weigerte sich zu glauben, daß der Krieg von einem Augenblick auf den anderen die Hand nach seinem Land ausstreckte, nur weil die Kunde von der Größe und dem Reichtum Burgunds in mißgünstigen Nachbarn Haß und Neid geweckt hatte. »Gunther...« begann Hagen, die Förmlichkeit nun doch wieder beiseite lassend. Aber Gunther unterbrach ihn unwillig. »Nicht«, sagte er. »Ich weiß, was du sagen willst, Freund. Aber ich brauche keinen Trost.« Seine Stimme klang gereizt »Rufe Gernot, Ekkewart, Sinold - alle, die in der Stadt sind.« Der Schmerz fiel von ihm ab wie ein abgetragenes Kleidungsstück. Von einem Augenblick auf den anderen war er wieder der König, der auf dem Posten war und sein Reich regierte. »Es ist keine Zeit zu verlieren, Hagen. Das hier«, seine Hand fiel auf die Schriftrolle und zerknitterte sie, »ist kein Spaß. Du weißt so gut wie ich, daß wir den vereinigten Heeren der Dänen und Sachsen nicht gewachsen sind.« »Du denkst doch nicht daran, dieses unverschämte Angebot anzunehmen und dich freizukaufen?« entfuhr es Hagen. Im gleichen Moment bedauerte er schon, es ausgesprochen zu haben. Doch Gunther nahm es ihm nicht übel.
»Natürlich nicht Aber wir haben keine Stunde zu verlieren.« Gunther stand auf. »Sende Boten in alle Städte und an jeden Hof, der uns Gehorsam schuldet oder in Freundschaft verbunden ist, und Reiter in jede Stadt am Rhein, die auf dem Wege der sächsischen Heere liegt Jeder Mann, der ein Schwert zu führen versteht und ein Pferd zu reiten imstande ist, soll unverzüglich nach Worms kommen.« Hagen nickte, machte jedoch keine Anstalten, Gunthers Befehl zu befolgen. »Das muß und wird geschehen. Gewiß«, sagte er. »Aber vielleicht gibt es eine andere Lösung.« Gunther sah ihn fragend an. »Siegfried«, antwortete Hagen »Siegfried...?« Gunther konnte seine Überraschung nicht verbergen. »Sagst du das, weil du Siegfried haßt, oder glaubst du wirklich, daß er uns helfen kann?«
»Meine Gefühle dem Xantener gegenüber sind unwichtig«, erwiderte Hagen. »Ich meine es ernst, Gunther. Siegfried von Xanten hat dir Freundschaft und Burgund Treue geschworen. Wäre dies nicht der Moment, seinen Eid auf die Probe zu stellen? Immerhin hat er siebenhundert Recken erschlagen im Nibelungenland. Ganz allein.« Gunther machte eine ärgerliche Handbewegung. »Laß das, Hagen. Dies ist nicht der Moment zu scherzen.« »Ich scherze nicht«, erwiderte Hagen ruhig. »Siegfried...« »... würde für mich in den Kampf ziehen, ganz allein, wenn ich ihn darum bitte«, unterbrach ihn Gunther. »Und vielleicht dabei getötet werden. Das ist es doch - oder nicht?«
Hagen runzelte die Stirn. »Nein«, widersprach er. »Oder vielleicht doch«, fügte er nach kurzer Überlegung hinzu. »Ich hasse Siegfried nicht, aber es würde mir nicht das Herz brechen, wenn er in der Schlacht fiele.« »Du haßt ihn«, behauptete Gunther. »Wenn ich nur wüßte, warum. Du hast ihn vom ersten Augenblick an gehaßt, und das Jahr, das er bei uns weilt, hat daran nichts geändert« Hagen blickte an Gunther vorbei aus dem Fenster. Die Sonne war höher gestiegen, und der rötliche Schein des Himmels begann zu verblassen. Die Luft war sehr klar, man konnte sehen, wie kalt sie war. Hagen versuchte, über diesen Beobachtungen der leisen, beharrlichen Stimme in seinem Inneren nicht zu achten, die seine Worte Lügen strafte. »Ich hasse ihn nicht«, sagte er zum wiederholten Male. »Aber vielleicht fürchte ich ihn.«
»Du hast keinen Grund, Siegfried von Xanten zu fürchten.« »Vielleicht nicht ihn«, erwiderte Hagen. »Sondern das Unglück, das ihn begleitet wie einen Schatten.«
Gunther verfiel in einen gereizten Ton. »Unglück? Warst nicht du es, der fast im gleichen Atemzug vorschlug, Siegfried unseren Kampf kämpfen zu lassen?«