Hagen ritt eine Stunde und länger, ohne sich und seinem Tier eine Rast zu gönnen, aber von Siegfried und seinen Begleitern war nicht die geringste Spur zu sehen. Hagen versuchte sich an sein letztes Gespräch mit Giselher zu erinnern. Jedoch vergeblich. Gunthers jüngerer Bruder hatte ihm die einzelnen Stationen ihres geplanten Rittes genau beschrieben, voll kindlicher Begeisterung über die Aussicht, mit Siegfried, dem Drachentöter, reiten zu dürfen. Doch Hagen hatte nicht wirklich hingehört - warum auch? Siegfried war unterwegs, um Kühe zu zählen und die Schäden zu prüfen, die der harte Winter den Bauern zugefügt hatte, denn Gunther beabsichtigte, die Abgaben in diesem Jahr ein wenig geringer zu bemessen. Burgund war ein reiches Land, und der König konnte sich diese Großzügigkeit leisten. Und einen Drachentöter, dachte Hagen mit grimmigem Spott, der Rüben zählte und eingedrückte Weidezäune begutachtete.
Aber aus diesem wohltätigen Vorhaben würde nichts werden. Die Speicher und Schatzkammern von Worms würden sich rasch leeren, wenn Gunthers Heere zum Krieg rüsteten, und wahrscheinlich würde er sogar die Abgaben erhöhen müssen.
Wenn er dann noch ein Land hatte, das ihm seinen Anteil am Ertrag schuldig war.
Endlich tauchten vor ihm Reiter im Schnee auf. Hagen spornte sein Pferd zu noch größerer Eile an, beugte sich tief über den Hals des Tieres und hielt den Atem an, als die eisige Luft wie ein Messer in seine Kehle schnitt. Die Zügel waren hart vor Kälte, und seine nahezu tauben Finger hatten Mühe, sie noch zu halten. Es war, als kehrte der Winter zurück, statt zu weichen. Auf dem Fluß trieben kleine, an den Rändern zersplitterte Eisschollen.
Die Reiter kamen rasch näher. Sie ritten in lockerer Formation und in gemächlicher Gangart am Flußufer entlang, und Hagen hörte schon von weitem ihre übermütigen Stimmen. Es war ein gutes halbes Dutzend von Siegfrieds Begleitern - die Hälfte jener Nibelungen, die mit dem Xantener nach Worms gekommen waren -, dazu ein paar Männer aus Worms, die sich ihnen angeschlossen hatten, um der Langeweile der Stadt zu entfliehen; an ihrer Spitze Giselher und Volker, beide barhäuptig trotz der Kälte und in die flammendroten Umhänge Burgunds gehüllt, die über ihren dicken wollenen Mänteln fast ein wenig lächerlich wirkten. Ein Stück hinter ihnen, aber noch vor den Nibelungen, ritt Hagens Bruder Dankwart, in einem einfachen schwarzen Mantel, ähnlich seinem eigenen. Als sie Hagen erkannten, zügelten sie ihre Pferde. Hagen brachte sein Pferd erst knapp vor Giselher und Volker zum Stehen. Das Tier scheute; unter seinen Hufen spritzten Schnee und hartgefrorener Schlamm auf, als es tänzelnd auszubrechen versuchte. Sein Atem ging rasselnd, und Hagen mußte seine ganze Kraft aufbieten, um es zur Ruhe zu bringen.
»Hagen!« Giselhers Gesicht war vor Kälte gerötet, und in die jungenhafte Fröhlichkeit in seinen Augen mischte sich eine Spur von Sorge. »Was ist geschehen?« Sein Blick streifte Hagens Pferd. »Warum die Eile, Ohm Hagen? Seht Euch nur Euer Pferd an. Ihr habt das arme Tier beinahe zuschanden geritten.«
»Wo ist Siegfried?« fragte Hagen, ohne auf Giselhers Frage einzugehen. Er keuchte und merkte erst jetzt, wie sein Herz jagte. Nicht nur sein Pferd war verschwitzt und am Ende seiner Kräfte. »Nicht hier«, antwortete Volker an Giselhers Stelle. »Wir...« »Das sehe ich!« schnappte Hagen. »Wo ist er?«
»Was ist geschehen?« wiederholte Giselher erschrocken seine Frage. »Hat es... ein Unglück gegeben?«
»Ein Unglück?« Hagen schüttelte den Kopf. »Nein. Noch nicht jedenfalls. Es sind Boten gekommen. Von den Sachsen und aus Dänemark.« Giselher erbleichte. »Boten? Das bedeutet...«
»Krieg«, sagte Hagen. »Ihr müßt zurück nach Worms, so rasch wie möglich. Der König erwartet Euch und Siegfried von Xanten um die Mittagsstunde zur Beratung. Wo ist er?«
Giselher wich seinem Blick aus. »Nicht... nicht weit von hier...« Hagen hatte Mühe, sich zu beherrschen. Nicht nur sein Körper, auch seine Geduld war erschöpft. »Das hilft mir nicht weiter, Giselher!« sagte er ungehalten. »Wo genau?«
»Kennt Ihr die kleine Kapelle eine halbe Wegstunde östlich von hier?« fragte Volker. Dankwart, der sein Pferd zwischen das seine und das Giselhers gedrängt hatte, gab Hagen schweigend zu verstehen, daß der Spielmann die Wahrheit sprach. Hagen nickte und hob die Zügel, als wollte er sich sofort auf den Weg machen, aber Volker hielt ihn mit einem raschen Griff zurück. »Zum Teufel, Hagen, spiel nicht den Dummen!« rief er, so laut, daß jeder von Siegfrieds Männern es hören konnte. Hagen hatte plötzlich das sichere Gefühl, daß Volker genau das bezweckte. »Warum, glaubt Ihr, reiten wir so langsam? Er ist dort, aber er ist nicht allein.«
»Nicht allein? Was soll das heißen?«
Volker seufzte und verdrehte die Augen in gespielter Verzweiflung. »Er ist jetzt seit einem Jahr in Worms. Und auch Siegfried von Xanten ist ein Mann und nicht aus Holz oder Stein gemacht Muß ich noch deutlicher werden?«
Jemand lachte. Hagen sah wütend auf, und der Mann verstummte jäh. Hagen wandte sich wieder an Volker und streifte dessen Hand ab. »Nein, das müßt Ihr nicht«, sagte er ärgerlich. »Ich werde ihn holen, während ihr zurück nach Worms reitet«
»Laßt mich ihn holen«, bat Giselher, aber Hagen hatte sein Pferd bereits auf der Stelle herumgezwungen.
»Nein«, sagte er bestimmt Und als er Giselhers besorgte Miene sah, fügte er hinzu: »Keine Angst. Ich verrate nichts. Es ist mir völlig egal, ob und mit wem Siegfried ein Stelldichein hat. Denkt Euch etwas aus, um unsere Verspätung zu entschuldigen.« Er wandte sich an seinen Bruder. »Dankwart - du sorgst mir dafür, daß ihr auf dem schnellsten Weg nach Worms kommt Alle!«
Er ritt los, warf noch einen Blick über die Schulter zurück und ließ sein Pferd in einen zügigen, kräftesparenden Trab fallen. Zwei oder drei von Siegfrieds Reitern wollten sich aus der Schar lösen und ihm folgen, aber Dankwart rief sie mit einem scharfen Befehl zurück Hagen bog scharf von seinem eingeschlagenen Weg ab. Er kannte die Kapelle, von der Volker gesprochen hatte. Jedermann kannte sie. Sie lag eine knappe halbe Stunde von Worms entfernt auf einem bewaldeten Hügel und war während des Sommers ein beliebter Treffpunkt für Liebespaare, die sich hier im Schatten der Bäume ein Stelldichein gaben. Von der Kuppe des Hügels hatte man einen weiten Blick über das Land. Hagen überlegte. Gewiß hätte er Siegfried nicht ausgerechnet an einem Ort vermutet, an dem sich für gewöhnlich Stallburschen und Mägde trafen. - Nein, niemand hätte Siegfried an einem solchen Ort vermutet Gerade deshalb war er ja da. Doch es war nicht der Umstand, daß Siegfried sich mit einer Frau traf, der Hagen erzürnte - jedermann bei Hofe tat das, auch Hagen von Zeit zu Zeit. Ärgerlich war nur, daß er durch diesen Umweg kostbare Zeit verlor.
Der Boden begann sanft, aber stetig anzusteigen, und Hagens Pferd wurde langsamer. Diesmal ließ er es gewähren und trieb es nicht an. Das Tier war vollkommen verausgabt, und sie hatten noch den Rückweg nach Worms vor sich. Zudem war es nicht mehr sehr weit bis zur Kapelle. Nach einer Weile stieß er auf eine Spur. Die Spur eines einzelnen Reiters, der schräg von Norden heraufgekommen und offenbar in großer Eile gewesen war: Siegfried. Es konnte noch nicht sehr lange her sein, daß er hier vorbeigekommen war.