Hagen umrundete einen kleinen Teich, führte sein Tier behutsam über einen halbvereisten Bach und ritt das letzte Stück des Weges unter verschneiten Bäumen dahin, ehe endlich die Kapelle vor ihm auftauchte: ein kleines, strohgedecktes Gebäude mit rohen Steinwänden, das sich am Rande einer weiten Lichtung in den Schatten des Waldes zu schmiegen schien. Eine zweite Spur kam von Süden herauf, vereinigte sich auf der Lichtung mit der ersten und zog neben dieser weiter, schmaler und weniger tief; nicht die schweren Eindrücke eines Schlachtrosses, sondern die Spur eines kleinen Pferdes, wie es von Kindern oder allenfalls jungen Frauen geritten wurde. Hagen berichtigte seine Meinung im stillen: es war keine Dirne und keine Magd, mit der sich Siegfried traf. Eine solche hätte kein Pferd gehabt Hagen gab seinem Tier noch einmal die Sporen, sprengte das letzte Stück der Anhöhe in scharfem Galopp hinauf und sprang aus dem Sattel, kaum daß er die Kapelle erreicht hatte. Der Schnee vor dem Eingang war zertrampelt, und hinter der Kapelle war das nervöse Wiehern eines Pferdes zu hören. »Siegfried!« rief Hagen. »Siegfried von Xanten! Ich bringe eine wichtige Nachricht des Königs!« Er erwartete nicht, sofort Antwort zu erhalten. Minuten verstrichen, und nichts rührte sich. Einen Moment lang sah Hagen sich unentschlossen um. Nachdem er ein zweites Mal Siegfrieds Namen gerufen hatte und noch immer ohne Antwort blieb, schlug er zweimal mit der Faust gegen die Tür, ließ einen weiteren Moment verstreichen und trat ein. Die Kapelle war leer.
Unter dem einfach Holzkreuz an der Wand brannte eine Kerze, und über einer der drei rohgezimmerten Bänke hing ein bestickter Mantel. Auf der Bank, halb von dem Mantel verdeckt, lagen Siegfrieds Waffengurt und die Scheide mit seinem Schwert.
Hagen stutzte. Er schlug den Mantel zurück und streckte die Hand nach der Waffe aus. Der Gedanke, daß Siegfried eine Waffe wie Balmung wie einen billigen Dolch achtlos ablegen konnte, erschien ihm unvorstellbar. Aber es war das Nibelungenschwert. Der schmale, mit kostbaren Juwelen verzierte Griff und die lange - eine Spur zu lang erscheinende - Klinge waren unverkennbar.
Zögernd und mit einem Anflug von schlechtem Gewissen zog Hagen die Klinge aus ihrer Metallumhüllung. Er hatte Balmung zahllose Male an Siegfrieds Hüfte gesehen, aber er hatte nie Gelegenheit gehabt, das sagenhafte Schwert der Nibelungenkönige selbst in Händen zu halten. Die Klinge schien in seinen Fingern ganz sanft zu vibrieren, und für einen Moment bildete er sich ein, eine zarte, fast lautlose Stimme in ihrem Innern zu hören, ein Locken und Wispern, als hätte die Berührung seiner Hand den Geist des Schwertes geweckt.
Hagen hielt die Scheide ins Licht, drehte sie ein wenig und sah, daß die Innenseite nicht aus Metall oder Leder, sondern aus sonderbar porösem grauem Stein gefertigt war - Stein oder einem vielleicht noch härteren Stoff; so kunstfertig bearbeitet, daß Balmung jedesmal, wenn sein Besitzer ihn zog, neu geschärft wurde.
Bewundernd drehte Hagen die Waffe in den Händen. Das Schwert war riesig; so groß, daß er es unwillkürlich mit beiden Händen griff; dabei so leicht wie die Kurzschwerter, die die Römer benützten. Sein Daumen fuhr prüfend über eine der beiden Schneiden. Ihr Rand war dünner als Pergament, dabei aber noch immer von unglaublicher Härte; eine Schärfe, die beinahe unmöglich schien. Wenn das Material, aus dem das Schwert geschmiedet war, Stahl war, dann der leichteste Stahl, von dem er je gehört hatte.
Hagen machte einen spielerischen Ausfall gegen das Kruzifix an der Wand. Die Klinge schnitt pfeifend durch die Luft, so mühelos, als wäre sie eine natürliche Verlängerung seines Armes. Er spürte ihr Gewicht nicht; es gab kein Nachziehen, kein Ausbrechen, keinen fühlbaren Ruck, als er die Bewegung im letzten Moment abfing, nichts. Er fühlte die Bewegung, aber es war, als hätte er nur seinen eigenen Arm bewegt, nicht mit der Kraft seiner Muskeln, sondern durch seinen bloßen Willen. »Zufrieden?« sagte eine Stimme hinter ihm.
Hagen fuhr erschrocken herum. Siegfried stand in der Tür, mit seiner mächtigen Gestalt die Öffnung fast zur Gänze ausfüllend. Hinter ihm war eine huschende Bewegung; schnelle, vom Schnee gedämpfte Schritte, dann das unruhige Stampfen eines Pferdes, das Klirren von metallbeschlagenem Sattelzeug.
»Gefällt Euch Balmung?« fragte Siegfried, als Hagen nicht antwortete. Seine Stimme klang scharf, voll verhaltenem Zorn - oder war es Spannung, Unsicherheit, Schrecken... Er streckte fordernd den Arm aus und sah Hagen wütend an. Aber sein Blick flackerte.
Hagen rührte sich nicht. Die Klinge in seiner Hand verlieh ihm ein nie gekanntes Gefühl der Stärke, ein Bewußtsein von Macht und Überlegenheit, wie er es nie zuvor in seinem Leben empfunden hatte und das ihn erschreckte. Er begann zu ahnen, daß die wahre Stärke des Balmung mehr war als nur seine Härte und Unzerbrechlichkeit. Hastig schob er die Klinge in ihre Umhüllung zurück und legte sie wieder auf die Bank »Was gibt es?« fragte Siegfried unwirsch, immer noch ängstlich bedacht, Hagen keinen Blick nach draußen zu gönnen. Wieder huschte ein Schatten hinter ihm; gefolgt von Hufschlägen, die sich rasch entfernten und einen geübten Reiter verrieten.
»Ich habe Euch gesucht, Siegfried«, sagte Hagen, dem Siegfrieds offensichtliche Erleichterung nicht entging. Siegfrieds Verhalten erschien ihm unsinnig und unverständlich. Es gab keinen Grund für ihn, sich so zu benehmen, nur weil Hagen ihn bei einem Liebesabenteuer überrascht hatte. »Und Ihr habt mich gefunden«, sagte Siegfried. »Jetzt redet Ich hoffe, Ihr habt einen gewichtigen Grund, mir nachzuspionieren, Hagen.« Hagen wog seine Antwort sorgfältig ab. »Sogar zwei«, sagte er betont ruhig. »Die Kriegserklärung zweier Könige. Ist das Grund genug?« Siegfried schwieg einen Moment. »Lüdeger und Lüdegast«, sagte er schließlich. »Haben sie es also endlich getan.« »Endlich?« Siegfried lachte. »Erzählt mir nicht, daß Ihr überrascht seid, Hagen. Worms und Burgund hängen seit Jahren wie ein dicker goldener Apfel am Baum. Habt Ihr wirklich geglaubt, daß keiner je auf die Idee käme, ihn zu pflücken?«»Wir werden sie daran hindern«, antwortete Hagen schroff. »Aber ich bin nicht gekommen, um diese Sache mit Euch zu erörtern. Ich habe Auftrag, Euch zurück nach Worms zu holen. Ihr hättet schon gestern zurück sein sollen.«
»Ich... wurde aufgehalten«, erwiderte Siegfried gleichmütig. Er hatte sich nun wieder vollkommen in der Gewalt »Ich sehe es«, sagte Hagen.
»Vielleicht laßt Ihr Euch von einem Eindruck täuschen, der nicht stimmt.« »Was ich gesehen habe, genügt mir«, sagte Hagen steif. »Aber ich kann Euch beruhigen. Ich werde niemandem erzählen, was ich gesehen habe.« »Wer sagt Euch, daß es mich stören würde, wenn Ihr es tätet?« fragte Siegfried lauernd.
Hagen ballte insgeheim die Fäuste. Aber er beherrschte sich. »Ich bin auch nicht gekommen, um mit Euch zu streiten«, sagte er. »Reiten wir zurück nach Worms.« Er reichte Siegfried Schwert und Mantel. »Worauf wartet Ihr?« fragte er, als Siegfried weitaus langsamer, als nötig gewesen wäre, den Waffengurt umschnallte und sich bequemte, sein Pferd aus dem Wald zu holen. Der Xantener wollte offensichtlich Zeit gewinnen. Auch Hagen ging hinaus und stieg in den Sattel. Sein Schecke schnaubte unwillig, aber Hagen tätschelte ihm beruhigend den Hals und kraulte das Fell zwischen seinen Ohren. Sein Blick glitt über die verschneite Lichtung, während er ungeduldig auf Siegfried wartete. Zu den Hufspuren, die er bei seiner Ankunft vorgefunden hatte, waren neue hinzugekommen. Eine Spur, die in gerader Linie nach Süden, nach Worms und also zu der Festung führte. Nun, wenn es ein Mädchen aus der Burg war und nicht irgendeine Dirne, die Siegfried im Gasthaus in der Stadt für ein paar Münzen gekauft hatte, dann verstand Hagen sogar die Rücksichtnahme des Xanteners, auch wenn sie ihm etwas übertrieben vorkam. Endlich erschien Siegfried im Sattel eines strahlendweißen Schlachtrosses, dessen Farbe sich kaum von der des Schnees unterschied und dessen Atem in der Kälte dampfte, als speie es Feuer. Die Muskeln unter dem seidigglänzenden Fell arbeiteten in perfektem Spiel. Es war ein frisches Pferd, nicht jenes, mit dem der Xantener vor Tagen von Worms aufgebrochen war. Hagen wollte Siegfried fragen, woher er es hatte, überlegte es sich dann aber anders und deutete mit einer knappen Kopfbewegung nach Süden. Flanke an Flanke ritten sie los, zurück nach Worms.