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Die Spur begleitete sie fast den ganzen Weg nach Worms zurück und bog erst kurz vor der Stadt nach Osten ab; in eine Richtung, in der es nichts gab außer verschneiten Wäldern und Kälte. Hagen verschwendete keine Gedanken mehr daran, mit wem Siegfried sich getroffen haben könnte; es gab genug solcher dummen Dinger, die so vernarrt in den blonden Hünen waren, daß sie zu allem bereit waren - nur um sich später damit brüsten zu können, einmal in seinen Armen gelegen zu haben; vielleicht auch jemand, der dem Hofe nahestand und daher bemüht war, die Sache so geheim wie möglich zu halten. Bestenfalls vergaß Siegfried darüber den eigentlichen Grund, weshalb er vor Jahresfrist nach Worms gekommen war, oder verlor früher oder später die Lust, auf etwas zu warten, von dem er nicht wissen konnte, ob er es überhaupt jemals bekam.
Worms hatte sich verändert, seit Hagen in der Früh aufgebrochen war. Es war keine Veränderung, die auf den ersten Blick sichtbar geworden wäre; auf den Straßen waren nicht mehr Menschen als sonst, und zwischen den niedrigen, strohgedeckten Häusern hing der übliche Gestank der Stadt: nach brennender Holzkohle, nach Pferdemist und Kühen, nach Unrat und zu vielen Menschen; dazwischen der Geruch nach frischgefallenem Schnee und der Geruch nach Wasser, den der Wind vom Rhein herauftrug. Aber zu den gewohnten Eindrücken kam jetzt noch etwas anderes hinzu. Am Morgen, als Hagen die Stadt verlassen hatte, hatten ihm die Leute voll Verwunderung nachgeblickt; jetzt sah er Scheu in ihren Augen, wenn er sich näherte, und Furcht. Sie wissen es, dachte er. Das Geheimnis war nicht lange eines geblieben; die Kunde hatte sich rasch verbreitet, auf jenen dunklen, schwer zu ergründenden Wegen, auf denen sich Unglücksbotschaften stets verbreiten - und immer ein bißchen schneller, als es eigentlich möglich war. Noch lahmte der erste Schrecken die Gedanken der Menschen; Hagen hatte es oft genug erlebt. Er wußte, was geschehen würde, wenn die Erstarrung wich. Die Furcht würde in einen verzweifelten Lebenswillen umschlagen: Wie immer, wenn sich die Menschen - einmal mehr - an den Gedanken an Leid und Sterben gewöhnen mußten, würden sie versuchen, schneller zu leben; das, was sie sich für die nächsten Lebensjahre vorgenommen hatten, in Monaten oder gar Wochen zu erledigen. Die Kirchenglocke begann zu läuten, als Hagen und Siegfried die gepflasterte Hauptstraße zum Burgtor hinaufritten. Ihr Ton klang in Hagens Ohren seltsam dünn und verloren.
Siegfried verhielt sein Pferd und deutete mit einer Kopfbewegung nach links. Hagen folgte seinem Blick und brachte sein Tier ebenfalls zum Stehen.
»Sind sie dort?« Siegfrieds Hand wies auf die Herberge, das einzige zweistöckige Gebäude in diesem Teil der Stadt, das zudem ein Stück von der Straße zurückgesetzt lag. Vor der Eingangstür froren zwei Männer aus Gunthers Leibwache um die Wette, und Hagen fiel erst jetzt auf, daß die Menschen allesamt auf der anderen Straßenseite gingen, als mieden sie unwillkürlich die Nähe der beiden Fremden. Aber vielleicht hatten auch die Wachen Anweisung gegeben, sich der Herberge nicht zu nähern. Er nickte.
Siegfried wollte aus dem Sattel steigen, aber Hagen hielt ihn mit einer entschlossenen Bewegung zurück. »Nicht jetzt«, sagte er. »Wir werden später Gelegenheit haben, mit ihnen zu reden.« Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte Siegfried sich über Hagens Willen hinwegsetzen und in das Haus eilen, um die Wahrheit kurzerhand aus den beiden Boten herauszuprügeln (wozu Hagen selbst nicht übel Lust hatte); aber dann nickte er, zwang sein Pferd mit einem Schenkeldruck herum und jagte es das letzte Stück zum Burgtor hinauf. Hagen folgte ihm, wenn auch langsamer. Er sah keinen Grund, das Tier, dem er für heute schon genug zugemutet hatte, so kurz vor dem Ziel noch unnötig zu hetzen.
Siegfried war bereits im Haupthaus verschwunden, als Hagen durch das Tor ritt. Sein Pferd stand am Fuß der Treppe, und zwei Stallknechte waren damit beschäftigt, sein Geschirr zu lösen, die Schabracke abzunehmen und sein schweißnasses Fell trockenzureiben. Hagen zögerte einen Moment. Er hätte Siegfried folgen und unverzüglich zu Gunther gehen müssen. Aber da war noch Alberich; und wenn es auch noch lange nicht Abend war, konnte es doch sein, daß der Zwerg schon zurück war und das eine oder andere in Erfahrung gebracht hatte, was bei der Beratung von Nutzen sein mochte. Er schüttelte den Kopf, als einer der Stallburschen nach den Zügeln greifen und ihm aus dem Sattel helfen wollte, wendete das Pferd und trabte langsam auf die Stauungen zu.
Der Raum war nicht mehr verlassen. Die Pferde der heimgekehrten Reiter standen in den vorher leeren Boxen auf der linken Seite, allesamt schweißnaß und zum Teil noch gesattelt und gezäumt. Zwei Stallknechte und ein vielleicht zehnjähriger Knabe waren damit beschäftigt, sie abzusatteln und ihre verschwitzten Leiber mit Stroh trockenzureiben. Dem Zustand ihrer Pferde nach zu urteilen, konnten die anderen die Festung ebenfalls erst vor kurzem erreicht haben. Seltsam, dachte Hagen. Sie hätten lange vor ihm eintreffen müssen, bedachte er die Zeit, die er verloren hatte, um Siegfried zu holen. Hagen warf einen Blick in den Verschlag. Alberich war nicht da, aber einige Anzeichen deuteten darauf hin, daß der Zwerg schon wieder zurück war. Er wandte sich um, nickte einem der Stallburschen zu, der ihn hastig grüßte, und wollte gehen. Er sah flüchtig an dem Mann vorbei zu einem der Pferde, und unwillkürlich blieb sein Blick an dem Tier hängen. Irgend etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt, er wußte selbst nicht gleich, was. Das Tier war kleiner und zierlicher als die anderen Pferde im Stall. Hagen war sicher, es nicht gesehen zu haben, als er auf Giselher und dessen Begleiter traf. Trotzdem stand es gleichsam versteckt, zwischen den anderen Tieren.
»Dieses Pferd da«, sagte er. »Wem gehört es? Wer ist damit gekommen?« Der Knecht wich seinem Blick aus. »Ich... weiß es nicht, Herr«, sagte er. »Es wurde mit den anderen zusammen hereingeführt. Ich weiß nicht, wer es geritten hat«
Er log. Hagen mußte ihm nicht einmal ins Gesicht sehen, um zu wissen, daß er nicht die Wahrheit sprach. Er wollte den Mann zur Rede stellen, besann sich dann aber anders. Es bedurfte schon eines sehr gewichtigen Grundes, um einen einfachen Stallburschen dahin zu bringen, daß er Hagen belog. Er schob den Mann beiseite und trat dichter an das Pferd heran.
Das Tier hob mit einem schwachen Schnauben den Kopf und sah ihn aus trüben Augen an. Seine Nüstern bebten, und aus seinem Maul troff weißer Speichel. Es zitterte; sein Atem ging rasselnd, als wäre es gnadenlos gehetzt worden, und in seinem Fell waren die dünnen Spuren rücksichtslos eingesetzter Sporen. Es trug nur einen Sattel, keine Decke, und die harten Kanten des Leders hatten seine Haut wundgerieben. Ein Zipfelchen grauen Stoffes lugte unter dem Sattel hervor. Hagen beugte sich neugierig vor, lockerte den Sattelgurt und zog es ganz heraus. Es war ein Stück graue Seide, an allen vier Kanten säuberlich gesäumt und mit einer kunstvollen, aus verschlungenen Linien gebildeten Rose bestickt. Burgunds Rose...
Hagen betrachtete das Tuch einen Moment lang mit steinernem Gesicht, dann stopfte er es in seinen Handschuh und verließ mit raschen Schritten den Stall. Auf seiner Zunge lag ein bitterer Geschmack, als er quer über den Hof auf das Frauenhaus zueilte.
Hinter einem Mauervorsprung erwartete ihn Alberich. Der Zwerg hätte Hagen nicht ungelegener kommen können. Fast ungeduldig hörte er sich Alberichs Bericht an. Es war nicht sehr viel, was dieser in Erfahrung gebracht hatte. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sich Hagen enttäuscht und unzufrieden gezeigt und sich auf eines ihrer üblichen Wortgefechte eingelassen.