Die Entdeckung, die Hagen gemacht hatte, drängte für den Augenblick alles andere in den Hintergrund.
Hagen nickte zerstreut und entließ den Zwerg mit einem Wink. Immerhin - die spärlichen Informationen mochten dennoch für die Beratung von Nutzen sein.
Er betrat das Haus und rannte die Treppe zur Kemenate hinauf. Seine Gefühle und Gedanken waren in Aufruhr. Er trat ein, ohne zu klopfen.
Ute war nicht da; Kriemhild saß allein auf ihrem Stuhl gegenüber dem Fenster, stickte und tat, als hätte sie sein Eintreten nicht gemerkt, obwohl er die Tür hinter sich zugeworfen hatte. Sie war tief über ihre Handarbeit gebeugt, und ihre Schultern bebten fast unmerklich. Hagen war sicher, daß es nicht allein die Kälte im Raum war, die sie zittern ließ. »Kriemhild«, sagte er.
Kriemhild sah mit schlechtgespielter Überraschung auf, ließ ihre Handarbeit sinken und versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht ganz. Ihr Blick ging an Hagen vorbei zur Tür, als erwarte sie - nein, verbesserte sich Hagen in Gedanken, als befürchte sie -, hinter ihm noch jemanden eintreten zu sehen. »Ohm Hagen. Ihr... seid zurück?« »War ich denn fort?«
Kriemhild biß sich erschrocken auf die Lippen. Sie konnte nicht wissen, daß er ausgeritten war. Das Tor war vom Fenster ihrer Kemenate aus nicht zu sehen.
»Aber du warst wohl auch aus«, fügte er hinzu. »Ich habe dein Pferd gesehen, unten im Stall. Du hast das arme Tier arg gehetzt.« »Mir... war kalt«, sagte Kriemhild stockend. Sie versuchte nicht zu leugnen, dazu war sie zu klug. Ihre Hände zitterten, und in ihren Blick trat ein flehender Ausdruck »Es war so langweilig hier, und da dachte ich, ein Ausritt würde mir guttun. Aber es ist draußen noch kälter, als ich vermutete.« Sie sprach hastig, wie jemand, der einfach nur redet, irgend etwas, um sein Gegenüber nicht zu Wort kommen zu lassen. »Was ist geschehen, Ohm Hagen? In der Stadt läuten sie die Kirchenglocken, und ganz Worms ist in Aufregung. Gibt es schlimme Neuigkeiten?« Hagen sah sie prüfend an. In den Zorn und die Ungläubigkeit mischte sich Mitleid. Kriemhild wußte ja nicht einmal, was sie tat. Aber er drängte das Gefühl zurück und zog statt der milden Worte, die ihm auf der Zunge lagen, das graue Tuch aus dem Handschuh. Kriemhild erbleichte. »Ich habe es gefunden«, sagte er. »Ich dachte mir, du würdest es vermissen.«
Kriemhild steckte hastig die Hand nach dem Tuch aus. »Das ... ist lieb von Euch, Ohm Hagen«, sagte sie. »Wo habt Ihr es gefunden?« »In der Kapelle«, sagte Hagen. »Es lag am Boden. Du mußt es verloren haben, ohne es zu merken.«
Kriemhild zog ihre Hand wieder zurück, als fürchtete sie, sich zu verbrennen. Auf ihrem Gesicht malte sich blankes Entsetzen. »In der - Kapelle?« wiederholte sie heiser. »Ihr habt mit... Siegfried gesprochen?«
»Nicht über dich«, erwiderte Hagen. »Er weiß nicht, daß ich euer Geheimnis kenne. Und auch sonst niemand.«
Kriemhild begann am ganzen Körper zu zittern. Ein leises, schmerzliches Schluchzen kam über ihre Lippen. Sie stand auf, machte einen Schritt zum Fenster hin, blieb stehen und drehte sich mit einer hilflosen Geste zu Hagen um. Ihre Augen schimmerten feucht. »Ohm Hagen«, begann sie, »ich...«
»Wie lange geht das schon so?« unterbrach Hagen sie. Der harte Ton in seiner Stimme erschreckte ihn beinah selbst.
Kriemhilds Mundwinkel zuckten. Eine glitzernde Träne lief über ihre Wange. Vergeblich kämpfte sie um ihre Beherrschung. Sie schluchzte auf, warf sich plötzlich an Hagens Brust und klammerte sich fast verzweifelt an ihn. Sie versuchte zu reden, brachte aber nur ein krampfhaftes Schlucken heraus und verbarg das Gesicht an seiner Brust. Einen Moment lang schämte er sich. Er hatte ihr weh getan. Er kam sich schmutzig vor; gemein. Genausogut hätte er sie schlagen können. Nach einer Weile löste er ihre Hände von seinem Hals, ergriff sie bei den Schultern und schob sie auf Armeslänge von sich, ohne sie jedoch loszulassen. »Verzeih, Kriemhild«, sagte er sanft. »Ich habe gelogen. Ich fand das Tuch unter dem Sattel deines Pferdes. Aber es mußte sein. Und ich wußte es ohnehin.«
Kriemhild schluckte. Sie hatte sich wieder einigermaßen in der Gewalt, und sie weinte nicht mehr. »Trotzdem«, fuhr Hagen sanft, aber bestimmt fort »Beantworte meine Frage, Kind. Wie lange trefft ihr euch schon dort draußen?« »Es war... das erste Mal«, murmelte Kriemhild. »Wir...« »Lüg mich nicht an, Kriemhild. Siegfried ist während des Winters oft ausgeritten und hat uns glauben lassen, er besichtige das Vieh und die Höfe.« Er lachte rauh. »Und du? Wie oft war es dir hier zu langweilig?« Kriemhild schluckte wieder. Sie hielt seinem Blick einen Moment lang stand, dann streifte sie seine Hände ab, ging zum Herd und blickte starr in die prasselnden Flammen.
»Viermal«, sagte sie leise. »Fünf, mit heute. Das erste Mal war... war wirklich ein Zufall. Mein Pferd hatte sich einen Stein in den Huf getreten und lahmte, und Siegfried kam... zufällig des Weges und half mir.« Hagen runzelte die Stirn. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie »zufällig« Siegfried des Weges gekommen war. Es war kein Geheimnis, daß Kriemhild von Zeit zu Zeit allein ausritt. Aber er schwieg. »Danach haben wir uns in der Kapelle getroffen«, sagte Kriemhild leise. »Es weiß niemand davon.« Sie hob den Kopf und blickte Hagen an. Ihr Gesicht glühte im Widerschein der Flammen, und ihr Blick war so voller Verzweiflung, daß Hagen ihn kaum ertrug. »Ihr werdet doch niemandem etwas verraten, Ohm Hagen?« flehte sie. »Ihr dürft es Gunther nicht sagen! Er würde ihn töten.«
»Und dich verstoßen und ins Kloster schicken - wenn nicht Schlimmeres«, fügte Hagen unbarmherzig hinzu. »Ist dir denn nicht klar, daß dieses heimliche Spiel für dich nicht weniger gefährlich ist als für ihn?« Kriemhild senkte den Kopf und nickte.
Vor allem sollte sich Siegfried darüber klar sein, dachte Hagen und ballte die Fäuste. Wenn er schwieg, dann einzig, um Kriemhild zu schützen.
»Hat... er dich berührt?« fragte er steif. Kriemhild starrte ihn an. »Dir...«
»Was habt ihr getan?« fragte Hagen mühsam beherrscht. »Nur geredet? Worüber?«
»Ihr täuscht Euch, Ohm Hagen!« sagte Kriemhild mit plötzlicher Würde. »In Siegfried und in mir. Ihr tut Siegfried unrecht und beschämt mich.« Ihre Stimme klang deutlich schärfer. In ihren Augen blitzte es trotzig auf. Hagen hatte sie in die Enge gedrängt, und sie versuchte ihn daran zu erinnern, daß sie immerhin Gunthers Schwester und von königlichem Blute war.
Hagen hielt ihrem Blick gelassen stand. Und schon nach wenigen Augenblicken brach Kriemhilds Widerstand so schnell zusammen, wie er erwacht war.
»Es ist nichts geschehen, Ohm Hagen«, sagte sie leise. »Wir haben uns geküßt, einmal, und in allen Ehren.« Hagen lachte spöttisch.
»Ein harmloser Kuß«, begehrte Kriemhild auf. »Was ist schlimm daran?« »Nichts«, erwiderte Hagen zornig. »Erst ein harmloser Kuß, dann eine harmlose Umarmung, dann...« Er schüttelte den Kopf und sah Kriemhild mit einer Mischung aus Wut und Trauer an. »Begreifst du denn nicht, daß Siegfried sich in dein Herz schleicht wie ein Dieb?« »Das muß er gar nicht«, entgegnete Kriemhild heftig. »Ich weiß, daß es Euch nicht gefällt, Ohm Hagen, und ich weiß auch, daß Ihr Siegfried haßt. Aber so, wie Ihr ihn vom ersten Moment an verabscheut habt, habe ich ihn vom ersten Augenblick an geliebt. Und er mich.« »Liebe? Weißt du denn überhaupt, was das ist? Oder glaubst du nur, es zu wissen?«
»Ich weiß, was mein Herz sagt, und das ist genug.« »Dein Herz? Es ist noch kein Jahr her, Kriemhild, da haben wir genauso hier gestanden und über die Liebe gesprochen. Hast du deine Worte schon vergessen? Hast du vergessen, was dir träumte und was du geschworen hast? Daß dich kein Mann je besitzen solle?« »Ein Traum! Ihr selbst habt mich ein dummes Kind gescholten, daß ich auf einen Traum hörte. Damals hattet Ihr recht.« »So wie jetzt.«