Das Gesicht des Sachsen zeigte nicht die geringste Regung, als er antwortete: »Ist das Euer letztes Wort, König Gunther? Bedenkt, daß unsere Heere...«
»Unser letztes Wort«, unterbrach ihn Gunther. »Und nun geht! Ortwein von Metz wird Euch begleiten. Es stehen zwei frische Pferde und Zehrung für den Weg bereit.«
Die beiden Boten rührten sich nicht, sondern standen da, als warteten sie noch auf etwas. Vielleicht auf ein Wort Siegfrieds. Aber Siegfried blieb stumm und blickte sie nur eisig an, bis sie sich endlich umwandten und, begleitet von den beiden Wachen, aus dem Saal gingen. »Die Antwort hat ihnen offenbar nicht ganz genügt«, sagte Ekkewart »Sie schienen sich ihrer Sache nicht so ganz sicher zu sein.« »Das schadet nichts«, antwortete Siegfried an Gunthers Stelle. »Dafür werden sie reiten wie die Teufel, aus lauter Erleichterung, mit dem Leben davongekommen zu sein. Habt ihr die Angst in ihren Augen gesehen? Sie werden an nichts anderes denken als daran, ohne Verzug aufzubrechen und in kürzester Zeit so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und Worms zu bringen. Und Ortwein wird dafür sorgen, daß sie diesem Wunsch nicht untreu werden.« »Wie weit begleitet er sie?« warf Hagen ein.
»Bis an die Grenzen Burgunds«, erwiderte Gunther. »Weit genug, daß sie nicht auf den Gedanken kommen, noch einmal umzukehren und sich davon zu überzeugen, daß wir keine Ränke schmieden.«
»Was sie ohnehin annehmen«, fügte Gernot hinzu. »Weder Lüdeger noch Lüdegast wird glauben, daß wir uns wie die Weiber hinter unseren Mauern verkriechen und darauf warten, daß sie uns angreifen.«
»Natürlich nicht«, sagte Siegfried. »Sie wären Narren, das zu glauben. Aber sie werden auch nicht glauben, daß wir ihren Boten auf dem Fuße folgen. Ortwein hat Anweisung, ihr Vorwärtskommen etwas zu verzögern. Lüdegast wird nicht einmal Zeit haben, sich von seinem Zorn zu erholen, nachdem er Gunthers Botschaft erhalten hat« »Ihr sprecht, als hättet Ihr den Krieg schon gewonnen, Siegfried von Xanten!«
Ute hatte sich von ihrem Platz am Feuer erhoben und war unbemerkt näher gekommen. Siegfried antwortete nicht sofort Er war offensichtlich verwirrt und nicht darauf gefaßt, einer Frau Rede und Antwort zu stehen. Einen Moment blickte er unentschlossen zwischen Ute und Gunther hin und her, dann verbeugte er sich leicht gegen die Königin und rang sich sogar ein Lächeln ab.
»Verzeiht, edle Königin«, sagte er, »aber das ist etwas ...« »Von dem ich nichts verstehe und aus dem sich Frauen herauszuhalten haben, ich weiß«, fiel ihm Ute ins Wort. Siegfried geriet nun vollends aus der Fassung, und Hagen unterdrückte mit Mühe ein schadenfrohes Grinsen. Siegfried hatte die Königin in dem Jahr seines Aufenthaltes in Worms weniger als ein dutzendmal getroffen, und er hatte, wie wohl die meisten, einen völlig falschen Eindruck von Ute gewonnen. »Natürlich nicht, meine Königin«, stammelte er. »Es ist nur...« Ute seufzte. »Wenn ihr euch nur selber sehen könntet!« sagte sie. »Ihr alle! Ihr sitzt da und redet über den Krieg, als wäre er ein Spaziergang!« »Mutter!« sagte Giselher. »Ich glaube nicht...«
»Du schweigst!« fuhr ihm Ute zornig über den Mund. »Du weißt nicht, wovon du sprichst, du am allerwenigsten! Was weißt du denn vom Krieg und vom Kämpfen, außer dem, was dir Hagen beigebracht hat? Du denkst an den Feind und ans Töten, aber hast du auch schon einmal ans Getötetwerden gedacht? Hagen hat dir gezeigt, wie man ein Schwert führt, wie man einen Speer schleudert und den Feind trifft. Hat er dir auch gezeigt, wie man getroffen wird? Und du, Gunther! Waren es nicht deine eigenen Worte, daß die Häuser der Feinde vom Wehklagen der Mütter, Witwen und Waisen widerhallen werden? Was, wenn es Worms ist, dessen Frauen und Mütter weinen? Ihr redet vom Krieg, und eure Augen leuchten dabei vor Ungeduld und Vorfreude. Wie viele von euch werden nicht wiederkommen von diesem Feldzug?« Gunther begann unruhig zu werden. Utes Auftritt war ihm mehr als unangenehm. Aber die Blöße, die Königin von Burgund - und seine eigene Mutter - vor dem versammelten Hofstaat zurechtzuweisen, konnte und wollte er sich nicht geben.
Hagen räusperte sich laut. »Frau Ute«, begann er, aber Ute ließ ihn nicht weiterreden. Mit einer zornigen Bewegung schnitt sie ihm das Wort ab. »Spart Euch Eure Worte, Hagen von Tronje«, sagte sie. »Ich weiß, was Ihr sagen wollt. Ich verstehe nichts von Politik und schon gar nichts vom Kriegshandwerk, und zudem bin ich eine Frau, und die Weiber haben zu schweigen, wenn die Männer reden, nicht wahr? Wir sind gut genug, euch zu gebären und großzuziehen, aber wenn es ums Töten geht, haben wir zu schweigen!«
»So ist die Welt nun einmal, Frau Ute«, sagte Hagen leise. In Utes Augen blitzte es auf, und Hagen erwartete einen neuerlichen Zornausbruch. Aber dann entspannten sich ihre Züge, und sie nickte. »Ja«, murmelte sie. »So ist sie nun einmal. Vielleicht wäre sie besser, wenn wir Frauen die Macht hätten. Aber das werden wir wohl niemals erfahren.« Damit wandte sie sich um, befestigte den Schleier wieder vor dem Gesicht und ging.
Für eine Weile war es sehr still. Schließlich brach Gernot das immer lastender werdende Schweigen. »Wir... sollten keine Zeit verlieren«, sagte er. »Es ist noch viel zu tun, bis die Sonne sinkt.« Er wandte sich an Siegfried. »Seid Ihr noch immer entschlossen, schon heute aufzubrechen?« Siegfried nickte. Er war wie alle anderen sichtlich froh, daß Gernot ihm eine Brücke baute, um über den peinlichen Vorfall hinwegzugehen. »Warum nicht?« sagte er. »Die Männer sind ausgeruht, und die Tiere frisch und bei Kräften. Wir gewinnen viele kostbare Stunden, wenn wir die erste Nacht durchreiten.«
Gernot seufzte. »Vielleicht habt Ihr recht. Je eher wir es hinter uns bringen, desto besser.«
»Ihr werdet sehen, daß ich recht habe. Der Weg ist lang genug, um die verlorenen Stunden Schlaf beizeiten nachzuholen. Haben wir Lüdegast erst einmal in unserer Hand, so...«
»Verzeiht, Siegfried«, unterbrach ihn Hagen. »Aber sollten wir nicht zuerst die kleine Nebensächlichkeit erledigen, Lüdegast zu schlagen, ehe wir uns überlegen, welches Lösegeld wir für ihn fordern?« Siegfried musterte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Zorn. »Zweifelt Ihr auch daran, daß wir siegen werden, Hagen?« »Nein. Aber ich habe gelernt, nicht den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Man kommt leicht ins Stolpern, wenn man es versucht.« Siegfried schnaubte abfällig. »Die Dänen sind keine Gegner, die wir zu fürchten hätten, Hagen«, sagte er. »Tausend von uns sind so gut wie zehntausend von ihnen. Und wir haben Gott auf unserer Seite.« »Gott...« Hagen nickte. »Auch die Dänen haben ihre Götter. Und es mag sein, daß ein Gott allein auf unserer Seite nicht ausreicht...« »Hagen!« mahnte Gunther streng. »Versündigt Euch nicht!« »Verzeiht, mein König«, entgegnete Hagen trocken. »Ihr wißt, daß ich das Christentum achte, auch wenn ich mich nicht dazu bekennen kann wie Ihr. In Euren und in Siegfrieds Augen mag ich ein Ungläubiger sein, ein Heide. Aber ich habe gelernt, daß auch Euer Gott nur denen hilft, die sich selbst zu helfen wissen.«