»Genug!« sagte Gunther aufgebracht. »Kein Wort mehr davon, Hagen, ich befehle es Euch!«
»Laßt ihn, Gunther«, sagte Siegfried. »Wir wollen darüber nicht streiten. Und in einem hat er recht: Gott hilft lieber dem Tapferen als dem Feigen.«
Hagen begegnete Siegfrieds funkelndem Blick, und er spürte, daß die Auseinandersetzung noch lange nicht beendet war. Sie hatte noch nicht einmal richtig begonnen.
12
Die Sonne war untergegangen, aber die Nacht war vom Schein zahlloser brennender Fackeln und Feuer erhellt und erfüllt vom Raunen und Lärmen aufgeregter Stimmen, dem Stampfen der Pferde und dem Klirren von Stahl, dem Knarren von Leder und den Geräuschen von vielen Menschen, die sich auf zu engem Raum drängten. Der Platz vor dem Münster war überfüllt Die dreischiffige, aus Ziegelsteinen erbaute Basilika war kaum groß genug, die Masse all derer aufzunehmen, die gekommen waren, um den Segen zu empfangen oder Buße zu tun; nicht nur die Krieger, die in wenigen Stunden aufbrechen würden, sondern auch ihre Angehörigen - Väter und Mütter, die um das Leben ihrer Söhne bangten, Schwestern und Frauen, die den Schutz Gottes für ihre Brüder und Männer erflehten, Mädchen, die um die Rückkehr ihrer Geliebten beteten, Kinder, deren Herzen in Sorge um ihre Vater schlugen. Vor dem weitgeöffneten Tor der Kirche hatte sich eine endlose Menschenschlange gebildet, die, in Dreier- und Viererreihen gestaffelt, nur langsam vorrückte, während gleichzeitig diejenigen, die den Segen empfangen hatten, das Münster durch die andere Hälfte des Tores ebenso langsam verließen.
Hagen beobachtete die Menschen, die mit ernsten Gesichtern und seltsam in sich gekehrt aus der Kirche herauskamen. Es schien, als wäre manchen von ihnen erst im Inneren des hohen, kalten und von Dunkelheit und Weihrauchgeruch erfüllten Raumes klargeworden, was sie im Begriff standen zu tun. Vielleicht hatte es etwas mit ihrer Religion zu hin, die ihm stets fremd und verschlossen bleiben würde. Er hatte das Christentum niemals verstanden. Es war ein sonderbarer Glaube, der sich mehr mit dem Tod als mit dem Leben zu beschäftigen schien, und so wie seine Priester schienen auch seine Kirchen voller Düsternis und von einem leisen Hauch von Tod und Grabeskälte umgeben. Nach einer Weile wandte er sich um, zog den Mantel enger um die Schultern und begann mit langsamen Schritten den Platz zu überqueren. Hätte man ihn gefragt, warum er überhaupt hier war, so hätte er die Antwort selbst nicht gewußt. Er hatte Siegfried und die anderen bis vor das Tor des Münsters begleitet, als sie bei Sonnenuntergang als erste gingen, um sich Pater Bernardus' Segen zu holen, aber Hagen war geblieben und hatte sie nicht zurückbegleitet. Vielleicht, um allein zu sein. Vielleicht war dies auch seine Art zu beten. Er spürte, wie ihn die sonderbare Stimmung, die wie ein Fieber über die Stadt und ihre Bewohner gekommen war, in ihren Bann zu ziehen begann. Es war eine Stimmung, die er schon oft erlebt hatte und die ihn stets aufs neue überraschte; eine eigenartige Mischung aus Furcht und unterdrückter Verzweiflung und zügellos überschäumender Gier; Gier nach Wein und nach Essen, nach Musik und Frauen, nach Leben. Es war nicht viel Zeit, die Siegfried den Kriegern gelassen hatte - wäre es nur nach seinem Willen gegangen, dann wären sie jetzt bereits unterwegs, schon eine Stunde von Worms entfernt und eine Stunde näher der Schlacht. Aber nur ein kleiner Teil der Männer war bereits am Sammelpunkt oben am Burgtor, und es würde Mitternacht werden, bis sie wirklich aufbrachen. Viele, denen Hagen begegnete, waren betrunken oder auf dem besten Wege dazu, und manch einer würde später Mühe haben, sich aus eigener Kraft im Sattel zu halten. Hagen gönnte den Männern dieses kleine Vergnügen, ja, er beneidete sie fast darum. Die kalte Nachtluft und der Ritt, ohne längere Rast bis zum nächsten Abend, würde sie wieder nüchtern machen. Und für viele würde es der letzte Rausch ihres Lebens sein.
Hagen blickte in die Gesichter der Männer um ihn herum, und für Augenblicke wurden die, die er ansah, zu lebenden, fühlenden Wesen, waren sie nicht mehr Teil der gesichtslosen, tumben Masse, die sie sonst bildeten. Jeder einzelne von ihnen war ein Mensch mit einer Seele, Gefühlen und Nöten und mit Erinnerungen, Erinnerungen an ein Leben, das so verschlungen und so einzigartig wie sein eigenes war. Der Gedanke irritierte ihn. Er war es nicht gewohnt, in dieser Art zu denken. Er durfte es nicht einmal. Ein Heerführer durfte nicht anfangen, seine Krieger als Einzelwesen zu betrachten. Nicht, wenn er gewinnen wollte.
Hastig vertrieb er den Gedanken und ging weiter, schneller als bisher. Es wurde Zeit, daß er zu Siegfried und den anderen kam. Eine Gestalt vertrat ihm den Weg, als er den Kirchplatz verlassen wollte. Sie war klein, schlank wie ein Kind und ganz unter einem dunklen Mantel mit weit in die Stirn gezogener Kapuze verborgen. Trotzdem erkannte er sie sofort.
»Kriemhild!« sagte er überrascht. »Du hier? Was ...« Plötzlich verspürte er Zorn. »Wenn du Siegfried suchst...« »Ich suche nicht Siegfried«, unterbrach ihn Kriemhild hastig. Sie schlug ihre Kapuze zurück und zog ihn in den Schatten eines Hauses. »Ich habe Euch gesucht.« »Mich?«
»Ich wollte Euch danken, daß Ihr Gunther nichts verraten habt«, sagte Kriemhild. Sie sprach schnell, die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. Hagen begriff, daß sie sich jedes Wort genau überlegt und zurechtgelegt hatte. »Ich habe darüber nachgedacht, was Ihr mir gesagt habt. Ohm Hagen. Ihr hattet recht. Es war nicht richtig, was wir getan haben, und ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen. Wir werden uns Gunther offenbaren, sobald der Krieg vorüber ist« »Und darum bist du gekommen?«
Kriemhild schwieg einen Moment. »Nicht nur«, sagte sie dann. »Ich bin gekommen, um Euch um etwas zu bitten, Ohm Hagen. Ich... ich habe Angst.«
»Nicht nur du«, antwortete Hagen. »Jedermann hier hat Angst - selbst ich und Gunther. Die Furcht ist der Atem des Krieges. Wir kennen sie alle.« »Siegfried nicht«, behauptete Kriemhild. Ihre Stimme begann zu schwanken. »Er kennt keine Furcht, Ohm Hagen, glaubt mir. Furcht, Angst - Siegfried weiß nicht einmal, was das ist. Und das ist es, was mich ängstigt.« Hagen antwortete nicht gleich. Es mochte sein, daß es Menschen gab, die die Bedeutung des Wortes Angst nicht kannten. Die meisten von ihnen lebten nicht lange genug, um sie eines Tages dennoch kennenzulernen, aber es konnte sein, daß einige wenige dem Schicksal ein Schnippchen schlugen und zu Siegfrieds heranwuchsen. »Und?« fragte er schließlich.
Kriemhild blickte ihn voll Vertrauen an; voll eines grenzenlosen Vertrauens wie das eines Kindes, das noch nicht enttäuscht und betrogen worden war. »Ich bitte Euch, auf ihn achtzugeben«, sagte sie. Hagen sah sie verblüfft an. Kriemhild bat ihn, auf Siegfried achtzugeben. Ausgerechnet ihn? »Ich weiß, es ist viel verlangt«, fuhr Kriemhild flehend fort. »Und doch seid Ihr der einzige, den ich darum bitten kann. Euer Arm ist stark genug, ihn zu schützen, ganz gleich, vor welcher Gefahr.«
»Aber... warum gerade ich?« »Weil ich Euch vertraue«, sagte Kriemhild.
Hagen seufzte. Ein Betrunkener wankte auf sie zu, blieb stehen und trollte sich hastig, als er Hagen erkannte.
»Du weißt, wie ich zu Siegfried stehe«, fuhr Hagen fort, als sie wieder allein waren. »Ich hasse ihn nicht, wie Gunther glaubt, aber ich liebe ihn auch nicht. Es sind viele in Worms, die meinen, daß es mir ganz recht wäre, wenn er im Kampf fiele. Und trotzdem kommst du gerade zu mir? Du verlangst einen Freundschaftsdienst für einen Mann, der nicht mein Freund ist.«