Hinter ihm drängten weitere Männer aus dem Haus, allesamt großgewachsene, kräftige Gestalten in schweren Mänteln und mit wuchtigen, hörner- oder schwingengekrönten Helmen auf den Köpfen. Bewaffnet waren sie mit Schwertern und Beilen; einige trugen Rundschilde mit verschiedenen Motiven, und einer schwang einen gewaltigen dreikugeligen Morgenstern.
»Dänen!« schrie Siegfried. »Macht sie nieder!«
Es war kein Kampf, sondern ein Schlachten. Die Dänen waren ihnen an Zahl ebenbürtig, aber sie fanden nicht einmal die Zeit, sich zum Kampf zu formieren. Die beiden Reitertrupps - Siegfrieds auf der einen und Dankwarts auf der anderen Seite - erreichten sie im gleichen Moment und fuhren wie ein Sturmwind durch ihre gerade erst im Entstehen begriffene Schlachtordnung. Die Hälfte von ihnen fiel bereits unter dem ersten Ansturm der Nibelungenreiter, und die Überlebenden suchten ihr Heil in der Flucht.
Keiner der Fliehenden erreichte auch nur den Waldrand, und kaum einem gelang es, sich überhaupt zum Kampf zu stellen. Zwei von ihnen versuchten wohl, Rücken an Rücken die heranrasenden Reiter mit dem Mut der Verzweiflung abzuwehren, aber es war ein hilfloses Beginnen. Einer fiel, getroffen von einem Ger, den einer der Nibelungenreiter schleuderte, der andere sprang mit einem verzweifelten Satz zur Seite, um einem zweiten Wurfgeschoß auszuweichen, stolperte direkt vor Hagens Pferd und riß instinktiv seine Waffe hoch.
Hagen wehrte seinen Schwerthieb ab, stieß den Mann mit dem Schild zu Boden und zwang sein Pferd herum, kam aber nicht dazu, ein zweites Mal zuzuschlagen. Einer von Siegfrieds Reitern jagte heran und stieß dem Dänen seinen Speer in die Seite. Der Mann fiel, walzte sich im Schnee und begann zu schreien; hoch, spitz und in einer Tonlage, die kaum mehr etwas Menschliches hatte. Der Nibelunge wollte sein Pferd herumreißen und davongaloppieren, aber Hagen hielt ihn mit einem wütenden Griff zurück. »Töte ihn!« sagte er hart. »Gib ihm den Gnadenstoß!« Für die Dauer eines Herzschlages hielt der Nibelunge seinem Blick stand. Dann riß er sein Pferd mit einem Satz herum, hob ein zweites Mal den Speer und erlöste den Leidenden.
Als sich Hagen umwandte, war der Kampf vorüber. Die Dänen lagen zu Tode getroffen im Schnee. Nur ein einziger von ihnen lebte noch. Er hatte sein Schwert weggeworfen und rannte verzweifelt dorthin, wo die Pferde angebunden waren. Dankwart war auf seinem Pferd dicht hinter ihm, sein Schwert bereits zum tödlichen Schlag erhoben. »Halt an, Dankwart!« rief Siegfried. »Ich brauche ihn lebend!« Einen Moment lang sah es so aus, als hätte Dankwart Siegfrieds Worte nicht gehört Er trieb sein Pferd im Gegenteil zu noch schnellerer Gangart an, beugte sich weit aus dem Sattel und schlug mit aller Gewalt zu. Aber im letzten Moment drehte er das Schwert in der Hand, so daß die Klinge den Flüchtenden nur mit der Breitseite traf. Der Hieb war gewaltig genug, den Mann mitten im Lauf herumzureißen und zu Boden zu schleudern, aber sein Helm nahm ihm den größten Teil seiner Wucht, so daß der Schlag nicht mehr tödlich war.
Dankwart sprengte noch ein Stück weiter, ehe es ihm gelang, sein Pferd herumzureißen und zu dem regungslos auf dem Boden Liegenden zurückzureiten.
Siegfried, Hagen und zwei seiner Reiter erreichten den gestürzten Dänen nahezu gleichzeitig. Siegfried schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung aus dem Sattel und kniete neben dem Dänen nieder. Der gezückte Balmung blitzte in seiner Faust. Auf der Klinge schimmerte Blut. Mit einem Ruck drehte er den Bewußtlosen herum und schlug ihm ein paarmal mit der flachen Hand ins Gesicht, aber der Mann rührte sich nicht Siegfried zuckte mit den Schultern, stand auf und winkte einen seiner Männer herbei. »Er lebt noch«, sagte er. »Sieh zu, daß du ihn wach bekommst.«
Auch Hagen stieg aus dem Sattel. Seine Bewegungen waren eine Spur schwerfälliger als sonst; er fühlte sich benommen, überrumpelt von der Plötzlichkeit des Geschehens und vor allem davon, wie es geschehen war. Der Schnee im weiten Umkreis war zertrampelt und rot und braun von Blut, die Luft roch nach Blut und Kot, der Gestank des Schlachtfeldes, der sich in die klare, kalte Schneeluft geschlichen hatte. Das ganze furchtbare Geschehen hatte nicht länger als ein paar Minuten gedauert. Siegfrieds Männer waren wie eine Naturgewalt über die überraschten Dänen hereingebrochen und hatten sie hinweggefegt, ohne daß es einen wirklichen Kampf gegeben hatte. Er schauderte.
Siegfried nahm eine Handvoll Schnee auf, wischte die Klinge des Balmung damit sauber und schob das Schwert in die Scheide zurück. »Dänen«, murmelte er kopfschüttelnd, »so weit im Süden schon. Ich fürchte, sie beabsichtigen noch eher anzugreifen, als wir dachten.« »Ein Grund mehr, zum Heer zurückzukehren.« Hagen wies mit einer Kopfbewegung auf den Gefangenen. Einer von Siegfrieds Männern hatte ihn gepackt und auf die Füße gestellt, während ein anderer damit beschäftigt war, ihm Schnee ins Gesicht zu reiben. »Nehmen wir ihn mit« »Warum die Umstände?« erwiderte Siegfried. »Was wir von ihm wissen wollen, erfahren wir auch hier. Und schneller. Wir verlieren nur Zeit, wenn wir uns mit ihm abschleppen.«
Hagen spürte eine Woge heißen Zornes in sich aufwallen. »Ich werde nicht zulassen, daß Ihr ihn foltert, Siegfried«, sagte er scharf. »Dieser Mann ist unser Feind, aber er ist ein Krieger und hat ein Anrecht darauf, wie ein solcher behandelt zu werden.«
Siegfried wollte antworten, doch in diesem Moment trat einer der Männer, die abgesessen waren, um das Haus zu durchsuchen, hinzu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Siegfried zögerte. Der verächtliche Ausdruck in seinen Augen machte einem zornigen Funkeln Platz. »Wartet einen Moment, Hagen«, sagte er. Dann wandte er sich um und folgte dem Mann ins Haus.
Er blieb nur wenige Augenblicke. Als er wieder ins Freie trat, war er bleich und sein Gesicht wutverzerrt. »Warum kommt Ihr nicht ins Haus und seht Euch an, was diese ehrenvollen Männer getan haben, Hagen!« preßte er zwischen den Zähnen hervor. »Und dann sagt mir noch einmal, daß ich den Gefangenen mit Ehrerbietung behandeln soll.« Hagen machte einen Schritt auf das Haus zu und blieb wieder stehen. Er wollte nicht sehen, was dort drinnen geschehen war, obgleich er es wußte. Die Bilder waren immer die gleichen.
»Ein Mann und eine Frau«, sagte Siegfried. »Dazu ein Kind, wahrscheinlich ihre Tochter. Oder das, was sie von dem Mädchen übriggelassen haben.«
Hagen warf nur einen kurzen Blick ins Innere des Hauses. Seine vom Schnee geblendeten Augen sahen nicht mehr als Schatten und formlose schwarze Umrisse, aber vielleicht war es gerade das, was er nicht sah, was es so schlimm machte. Mit einem Ruck wandte er sich um und ging zu seinem Pferd zurück. Er vermied es, dem Dänen ins Gesicht zu sehen, als Siegfrieds Männer ihn ins Haus führten und die Tür hinter sich schlössen.
Dankwart sah seinen Bruder stirnrunzelnd an, während er aus dem Sattel stieg und sein Pferd zwang, wieder auf den gegenüberliegenden Waldrand zuzutraben. »Was ist mit dir?« fragte er »Sag jetzt nicht, daß dir diese dänischen Mörder leid tun.«
»Leid?« Hagen machte einen tiefen Atemzug. Jetzt, da alles vorbei war, spürte er wieder die Kälte der Luft. Leid? Tat ihm der Däne leid? »Nein«, sagte er. »Aber er ist ein Mensch.« »Das waren die da drinnen auch«, erwiderte Dankwart. Hagen schwieg. Dankwart hatte recht. Und trotzdem mußte er sich zwingen, nicht ins Haus zurückzugehen und Siegfrieds Tun Einhalt zu gebieten.