»Ihr vermutet eine Falle?« Siegfried lachte. »Keine Sorge, Hagen. Die Dänen schlafen tief und fest und wähnen uns in Worms oder bestenfalls auf halbem Wege hierher.« »Trotzdem...«
»Ihr seid wirklich der unverbesserliche Schwarzseher, als den man Euch bezeichnet«, sagte er. »Seht es von einer anderen Seite, wenn Euch die naheliegende Erklärung nicht genügt. Wir sprachen über Gott, erinnert Ihr Euch? Nehmt einfach an, er sei auf unserer Seite.« Er lachte wieder, gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte los. Der Waldrand kam rasch näher, wuchs von einer dunklen, verschwommenen Fläche zu einer mächtigen schwarzgrünen Mauer heran. Hagen erwartete jeden Augenblick einen Schrei zu hören, das Signal eines Hornes, auf das der gellende Schlachtruf aus dreimal tausend Kehlen antwortete. Aber die einzigen Geräusche, die zu vernehmen waren, waren die gedämpften Tritte und der keuchende Atem der Pferde, als der Boden steil anzusteigen begann. Unbehelligt erreichten sie den Waldrand und hielten an.
»Still jetzt«, sagte Siegfried. Seine Gestalt schien mit den Schatten des Waldes zu verschmelzen und war selbst aus der Nähe kaum zu erkennen, als schütze ihn ein geheimnisvoller Zauber. »Das Lager der Dänen befindet sich jenseits des Waldes, uns genau gegenüber. Keinen Laut mehr!«
Der Wald erschien Hagen unnatürlich still, als die Reiter ihre Pferde durch das dichte Unterholz drängten. Jeder Laut schien aufgesogen zu werden, kaum daß er entstanden war; selbst das Knacken und Brechen der Zweige und die dumpfen Hufschläge der Pferde. Die Tiere gingen vorsichtig und setzten die Füße behutsam auf, als ahnten sie, daß unter dem trügerischen Weiß, das den Waldboden bedeckte, ein Labyrinth aus Wurzelwerk und jäh aufklaffenden Spalten und Löchern verborgen sei. Hagens Besorgnis wuchs, während er dicht hinter Siegfried ritt, über den Hals seines Pferdes gebeugt, um sein Gesicht vor zurückschnellenden Ästen zu schützen. Der Wald war nicht sehr tief; schon schimmerte es vom jenseitigen Rand dämmergrau durch die Bäume. Sie mochten sich noch so sehr bemühen, leise zu sein - zwölfhundert Reiter, die sich ihren Weg durch das Unterholz bahnten, konnten nicht lange unentdeckt bleiben. Irgend etwas würde sie verraten und ihren ursprünglichen Plan, das Heer in vollem Galopp über den Hügel preschen und über den überraschten Feind hereinbrechen zu lassen, zunichte machen. Siegfried gab das Zeichen zum Anhalten. Sie waren nur noch eine Pferdelänge vom jenseitigen Rand des Waldes entfernt, weit genug, um nicht gesehen zu werden, aber nahe genug, um zu sehen. »Da unten sind sie«, murmelte er. In seiner Stimme schwang etwas, was Hagen erschreckte. Ungeduld, dachte er. Siegfried fieberte nach dem Kampf. Das Heer der Dänen lag wie ein gewaltiges, aus vielen tausend Körpern zusammengesetztes Tier in der Talsenke, eine kompakte schwarze Masse, in der eine Unzahl Feuer wie unregelmäßig verteilte flammende Augen loderten. Siegfrieds Angaben über die Zahl von Lüdegasts Kriegern mochte stimmen, aber erst jetzt, da er sie mit eigenen Augen sah, wurde sich Hagen bewußt, wie groß eine Armee von dreitausend Männern tatsächlich war.
»Dort hinten sind ihre Pferde«, flüsterte Siegfried. Er wies mit der Hand nach Norden, zum gegenüberliegenden Rand des Tales. Die Dänen mußten eine Art Koppel errichtet haben, in der sie ihre Reittiere untergebracht hatten, denn das flache Oval, das sich in sanftem Schwung den Hang hinaufzog, war der einzige Teil des Lagers, der nicht mit flackernden Feuern durchsetzt war. »Nicht mehr als fünfhundert«, fügte Siegfried leise hinzu.
»Eher weniger«, gab Hagen ebenso leise zurück. »Ein beträchtlicher Teil wird als Packtiere dienen. Der Däne hat also die Wahrheit gesagt.« Siegfried nickte. »Überzeugt Euch das, daß sie nichts von unserem Hiersein wissen?«
Hagen schwieg. Siegfried hatte recht. Lüdegast hätte sein Heer niemals in diesem Tal übernachten lassen, wenn er mit der Möglichkeit eines Angriffes gerechnet hätte. Das Tal mit seinen sanft, aber hoch ansteigenden Flanken mochte Schutz vor Kälte und Wind bieten - aber es war eine Falle. Hätten sie Zeit, ihre Reiter ringsum auf den Hügelkämmen zu postieren ... Hagen dachte den Gedanken nicht zu Ende. Sie haften keine Zeit. »Wenn es uns gelingt, hundert Mann dort hinüberzubringen, damit sie die Pferde auseinandertreiben, gewinnen wir einen großen Vorteil«, sagte Siegfried.
Hagen schüttelte den Kopf. »Das ist zu gefährlich. Und auch nicht nötig. Sie werden keine Gelegenheit haben, zu ihren Tieren zu eilen oder sie gar zu satteln. Wir...«
Ein Zweig knackte. Hagen verstummte jäh. Siegfried fuhr erschrocken im Sattel herum. »Was war das?«
Hagen sah sich mit neu aufkeimendem Mißtrauen um. Der Wald schien plötzlich voller huschender Gestalten, aber immer, wenn er genau hinsah, war es nichts, nur Leere, die seine überreizten Nerven mit tanzenden Schatten füllten. Siegfried sagte ein Wort in jener dunklen, fremden Sprache, die Hagen nicht verstand. Drei seiner Begleiter zwangen ihre Tiere auf der Stelle herum und verschwanden lautlos im Unterholz. Das Geräusch wiederholte sich nicht. Die Dämmerung warf ein Netz aus scharf abgegrenzten dunklen Sprenkeln und Flecken flackernder grauer Helligkeit über das Tal und ließ den lagernden Troß in eine Unzahl kleiner schwarzer Klümpchen zerfallen. Es sah aus wie ein fleckiger Ausschlag, der den Talboden bedeckte.
»Dort unten!« sagte Siegfried. »Was hat das zu bedeuten?« Ein einzelner Reiter hatte sich aus dem Lager gelöst und kam ohne sichtliche Eile den Hang heraufgeritten, schwenkte einen Steinwurf vor dem Waldrand ab und ritt in gemächlichem Tempo weiter. Es war kein beliebiger Reiter. Selbst im fahlen Licht des Morgens war die überschwengliche Pracht seiner Kleidung zu erkennen: Sein Hämisch glänzte, als wäre er aus poliertem Gold, und in seinem Umhang und der Decke seines Pferdes funkelten Edelsteine. In seinem rechten Steigbügel stak eine gewaltige, beinah zwei Manneslängen messende Lanze, an deren Spitze ein rotweißer Wimpel flatterte.
»Das ... ist Lüdegast«, murmelte Hagen überrascht, als der Reiter näher kam.
»Lüdegast? Der König der Dänen selbst?«
Hagen nickte. »Ja. Ich bin sicher. Ich bin ihm mehr als einmal begegnet Er ist es.«
»Lüdegast!« Siegfrieds Augen blitzten. Er löste die goldene Spange, die seinen Mantel hielt, warf das Kleidungsstück achtlos zu Boden und streckte fordernd die Hand aus. Einer der Nibelungenreiter reichte ihm einen gewaltigen dreieckigen Schild und eine Lanze, die die Lüdegasts an Größe fast noch übertraf. »Was habt Ihr vor?« fragte Hagen.
Siegfried lachte leise. »Wartet ab, Hagen«, sagte er. »Mit etwas Glück und Gottes Hilfe wird es gar nicht zur Schlacht kommen.« Und mit diesen Worten sprengte er los. Sein Pferd durchbrach mit einem mächtigen Satz das Unterholz, galoppierte aus dem Wald und stieg kreischend auf die Hinterhand, als Siegfried es jäh herumriß, auf den Dänenkönig zu.
Hagen wollte ihm folgen, aber einer von Siegfrieds Männern streckte den Arm vor und versperrte ihm den Weg. Hagen schlug seine Hand wütend beiseite, machte aber keinen Versuch mehr, Siegfried nachzureiten. Sollte der sich doch umbringen, wenn er es unbedingt so wollte, dachte er zornig. per Xantener hatte sich Lüdegast bis auf hundert Schritte genähert und sein Pferd zum Anhalten gezwungen. Auch der Dänenkönig zügelte sein Pferd und blickte zu Siegfried hinüber, eher verwirrt und überrascht als erschrocken.
»Lüdegast!« rief Siegfried mit lauter, weittragender Stimme. Sein Ruf mußte selbst unten im Tal deutlich zu vernehmen sein. »Hier steht Siegfried von Xanten, ein Freund Burgunds und Getreuer seiner Könige! Ich fordere Euch!«
Trotz der Entfernung glaubte Hagen zu erkennen, wie Lüdegast zusammenfuhr, als Siegfried seinen Namen nannte. Aber sein Erschrecken dauerte nur einen Augenblick. Dann löste er mit sicherem Griff seine Lanze aus dem Steigbügel, legte sie an und ritt los. Auch Siegfried senkte seine Lanze und ließ sein Pferd antraben.