Hagen schüttelte schwach den Kopf. »Ich bin nicht hungrig. Und meine Begleiter warten schon zu lange auf mich.«
»Ihr seid Besseres gewohnt als Brot und Wasser«, nickte die Alte. »Dann laßt mich wenigstens nach Eurer Hand sehen, zum Dank, daß Ihr meine Tochter sicher durch den Wald geleitet habt«
»Du ...« Hagen hob unwillkürlich die linke Hand und starrte auf den Handschuh, als erwarte er, dunkles Blut hervorquellen zu sehen. »Woher weißt du...?«
»Ich habe Augen, zu sehen, Herr«, antwortete die Alte. »Streift den Handschuh ab und laßt mich die Wunde versorgen. Ich habe eine gute Salbe.« Ehe er noch Gelegenheit hatte zu widersprechen, war sie neben ihm, griff nach seiner Hand und zog den Handschuh herunter. Ihre von Gicht und Alter gekrümmten Hände waren überraschend kräftig, und ihre Haut fühlte sich so glatt und weich an wie die eines jungen Mädchens.
»Das sieht nicht schön aus«, sagte sie, nachdem sie die Wunde im schwachen Schein der Glut eingehend betrachtet und behutsam mit den Fingern über ihre Ränder getastet hatte. »Sie wird sich entzünden, wenn sie nicht gesäubert und verbunden wird. Setzt Euch dorthin und wartet ein Weilchen.«
Hagen gehorchte stumm, ließ die Alte jedoch nicht aus den Augen, während sie wieder zu ihrer Kiste schlurfte und leise vor sich hinmurmelnd, wie es alte Menschen tun, wenn sie sich allein glauben, darin herumkramte. Ihr gekrümmter Rücken zeichnete sich deutlich unter dem dünnen Stoff des Kleides ab; ihre Schulterblätter traten knochig und spitz hervor, und als sie den Kopf senkte und ihr Haar auseinanderfiel, konnte er sehen, daß ihr Kopf voller Grind und Schorf war. Sein Blick streifte über die Feuerstelle, das eine, niedrige Bett und blieb an einem langgestreckten dunklen Gegenstand an der Wand gegenüber der Tür hängen. Es dauerte eine Weile, bis er in der spärlichen Beleuchtung erkannte, was es war: ein Kreuz, ähnlich dem, das die Alte um den Hals trug, aber aus Holz und mit mehr Sorgfalt geschnitzt Daneben, etwas kleiner und so angebracht, daß sie, wenn man das Haus betrat, nicht sofort sichtbar waren, hingen ein Runenstab und ein silberner Thorshammer.
Hagen runzelte verwundert die Stirn, wartete aber mit seiner Frage, bis die Alte zum Tisch zurückgekommen war und sich auf der zweiten Bank niederließ. Sie hatten einen kleinen Tonkrug mitgebracht, in dem eine zähe dunkelgraue Masse war; wohl die Salbe, von der sie gesprochen hatte, dazu ein weißes Tuch.
Hagen deutete mit der rechten Hand auf das Kreuz und den Runenstab. »Wie verträgt sich das?« fragte er. »Das Kreuz der Christenheit und diese« - er betonte das Wort vielsagend - »heidnischen Zeichen?« Die Alte lächelte. »Besser, als die meisten ahnen«, antwortete sie. »Viel besser, Hagen von Tronje.« Mit geschickten Bewegungen breitete sie das Tuch vor sich aus, tunkte einen Zipfel davon in die Schale mit Wasser und verteilte mit einem hölzernen Löffel etwas von der grauen Salbe auf dem angefeuchteten Tuch. Ein unangenehmer, beißender Geruch drang in Hagens Nase. »Vielleicht besser als ein Mann aus Tronje, der unter dem Kreuz der Burgunder kämpft.«
Hagen fuhr auf. »Ich kämpfe für Burgund«, antwortete er scharf. »Nicht für das Kreuz.«
»Das die Burgunder nur im Wappen haben, weil das Christentum Rom erobert hat und es sich besser mit den Mächtigen als gegen sie kämpft«, fügte die Alte hinzu und griff nach seiner Hand. Hagen biß die Zähne zusammen, als sie den feuchten Lappen auf die Wunde preßte und Schmutz und verkrustetes Blut herauszureiben begann. Die Salbe brannte wie Feuer. »Glaubt nicht auch Ihr in Wahrheit noch an die alten Götter, Hagen von Tronje?« fragte sie, ohne ihn anzusehen. »Oder habt Ihr den Glauben Eurer Väter schon ganz verloren?«
»Was ein Mann glaubt, zählt nicht«, antwortete Hagen. »Nur, was er tut.« »Genausogut kannst du sagen, nicht die äußeren Zeichen zählen, sondern nur der Glaube, der in den Herzen ist.« Sie blickte auf. »Oder meinst du, daß die Götter - oder der Gott der Christenheit - darauf sehen, ob Kreuz oder Runenstab über den Türen der Menschen hängen? Um solche Götter wäre es traurig bestellt.« Gegen seinen Willen mußte Hagen lächeln. »Sie könnten eifersüchtig sein«, sagte er. »Auf Kreuz oder Runenstab, je nachdem.« Mit der Alten ging eine plötzliche Veränderung vor, die das Lächeln aus seinem Gesicht wischte. »Sie sind es, Hagen«, murmelte sie. »Und die Menschen werden ihren Zorn zu spüren bekommen, schon bald.« Hagen fröstelte. Mit einemmal fiel es ihm schwer, dem Blick ihrer grauen Augen standzuhalten. Ruckartig zog er seine Hand zurück. »Wer bist du?« fragte er streng. »Du bist keine Bäuerin und kein Kräuterweib. Bist du eine Hexe?«
»Nein.« Lächelnd griff sie wieder nach seiner Hand und fuhr fort, die Wunde zu versorgen. Sie ging jetzt sanfter zu Werke; er spürte fast keinen Schmerz mehr. »Nur ein Mensch, der Augen hat, um zu sehen, und Ohren, um zu hören. Ich sehe die Zeichen am Himmel, Hagen, und manchmal, wenn die Nacht still ist und der Wald schweigt, dann höre ich das Wehklagen all derer, die sterben werden. Ragnarök ist nicht mehr weit.«
Hagen schauderte. Es war nicht das erste Mal, daß er Prophezeiungen dieser Art hörte, doch sein Erschrecken darüber war noch nie so tief gewesen wie jetzt. »Du...«
»Ihr wißt, daß ich die Wahrheit spreche, Hagen von Tronje«, unterbrach ihn die Alte. »Denn Ihr seht die Zeichen wie ich, und auch Ihr hört in Euren Träumen die Stimmen der Verdammten. Ihr und ich, wir stammen aus derselben Welt. Aber diese Welt stirbt.« Die Alte starrte an ihm vorbei ins Leere und fuhr leise fort: »Geht zurück nach Tronje, Hagen. Geht zurück in die Welt, aus der Ihr einstmals gekommen seid. Ihr gehört nicht hierher, so wenig wie ich.«
»Was redest du da?« murrte Hagen. Er fühlte sich mehr und mehr verunsichert, ja verängstigt, und dieses Gefühl machte sich wie üblich in Zorn Luft. »Burgund ist sicher. Seine Mauern sind fest, und die Schwerter, die sie verteidigen, gut.« »Wie die Männer, die sie führen. Aber auch die besten Männer können nicht gegen den Willen der Götter bestehen, Hagen. Ihr seid auf dem Rückweg von einer langen Reise, und Ihr habt die Zeichen der Zeit gesehen, dort, wo Ihr gewesen seid. Es ist nicht nur das Kreuz, das die Welt erobert Der Wandel ist unaufhaltsam, und die neue Zeit bricht an. Vielleicht vergeht ein Jahrhundert, ehe der Wandel vollzogen ist, vielleicht zehn, aber es steht nicht in der Macht der Menschen, ihn aufzuhalten. Und er wird blutig und voller Schmerzen sein.« Was ist das? dachte Hagen erschrocken. Das sind meine eigenen Gedanken! Die Gedanken, die ich selbst gedacht habe, unten am Fluß! »Du kannst in die Zukunft sehen?« fragte er zweifelnd. »Du ... hast das zweite Gesicht?« Seine Augen wurden schmal. »Wer bist du, Alte? Eine Seherin, oder nur ein altes Weib, das sich wichtig macht?« »Ich kann nicht in die Zukunft sehen, Hagen. Das kann niemand. Doch ich sehe das Schicksal der Menschen, denn es ist ihnen vorbestimmt Das deine ist dunkel, und dein Weg wird hart und voll Bitterkeit sein, wenn du dich entschließt, ihn zu Ende zu gehen.« »Da ich meinem Schicksal nicht entrinnen kann, wie du sagst«, erwiderte er in dem vergeblichen Versuch, spöttisch zu klingen, »so werde ich ihn gehen müssen.«
»Jeder Weg hat Gabelungen, Hagen, und keine Straße führt nur in eine Richtung«, entgegnete die Alte ernst »Die Menschen sagen von dir, daß du ein harter Mann bist. Aber sie sagen auch, daß du ein aufrechter Mann bist, und ich sehe, daß beide Behauptungen wahr sind. Es gibt nicht mehr viele wie dich, Hagen, so, wie es nicht mehr viele von meiner Art gibt, und darum will ich dir eine Warnung mit auf den Weg geben. Ich sehe Schmerzen auf deinem Weg, Hagen, Schmerzen und Blut und Tränen und Verrat. Man wird dich einen Mörder heißen und einen Verräter, und viele, die dich lieben, werden dich hassen lernen. Und es wird eine Frau sein, die dein Schicksal bestimmt, Hagen. Hüte dich vor ihr.« Eine Frau? dachte Hagen. Unsinn. Er hatte nie viel mit Frauen im Sinn gehabt. Er war ein Krieger, und im Leben eines Kriegers hatten Frauen nichts verloren. Er hatte sein Leben lang nach dieser ehernen Regel gelebt, und er war zu alt, um jetzt noch damit zu brechen. »Unsinn«, sagte er laut - eine Spur zu laut. »Ich habe mit Frauen nichts zu schaffen und sie nichts mit mir.«